Foto: Sangeun Lee und Francesco Pio Ricci als Iphigenie und Orest © Semperoper Ballett/Ian Whalen
Text:Roland H. Dippel, am 6. Dezember 2019
Kein bisschen museal: Die Neueinstudierung von Pina Bauschs am 21. April 1974 in Wuppertal uraufgeführter Tanzoper entfaltet jetzt eine exklusive Aura des Klassizismus, wie man sie vor Verbreitung der historisch informierten Aufführungspraxis etwas pauschal dem Komponisten Christoph Willibald Gluck zugeschrieben hatte. Pina Bauschs oberstes Gebot, die Gleichwertigkeit von Choreographie und berührender Menschlichkeit der Darsteller, ist zeitlos und funktioniert deshalb auch im distinguierten Ambiente der zur Premiere nicht ausverkauften Semperoper. Sogar der Holztisch, auf dem Orest zur durch göttliche Fügung letztlich verhinderten Opferung liegt, wirkt erlesen. Bei der Badewanne daneben denken Ältere an Joseph Beuys, für andere drängt sich die Assoziation an Peter Konwitschnys Mordszene in Strauss‘ „Elektra“ und damit die Vorgeschichte von Glucks Oper auf.
Fast fünfzig Jahre nach der Uraufführung wirkt die Haltung von Pina Bauschs lautstark bejubelter Choreographie eher Goethe-affin als expressionistisch. Die Sensation sind die Menschen auf der Bühne und ihre konzentrierten Bewegungen. Daneben wirkt fast alles andere wie Beiwerk oder entbehrlich: Die Ausstattung von Jürgen Dreier und sogar die musikalische Seite, denn diese kapituliert allzu kleinmütig vor der verdichtet und intensiv gehaltenen Choreographie.
Früheren Interpreten aus Pina Bauschs Compagnie haben mit Tänzerinnen und Tänzern aus dem Semperoper Ballett deren Rollen erarbeitet. Eindrucksvoll, wie viel Psyche, Geist und ‚Philosophie‘ sich auf die Jüngeren übertragen hat. Bei Sangeun Lee als Iphigenie leuchten die Emotionen aus den Augen: Jede Muskelbewegung scheint im Fluss, es gibt keine rat- oder rastlosen Eskapaden, ihre Gestaltung wird zur Synthese aus Bewegung, Gehalt und Idee. Der Einstudierung ist die Hauptaufgabe bravourös gelungen: Die Organik stimmt, weil es keine performativen Puffer zwischen Persönlichkeiten, Sujet und Bewegungsdynamik zu geben scheint. Heute wirkt vielleicht noch faszinierender als in den 1970ern, wie intensiv die Beziehung zwischen Orest (Francesco Pio Ricci) und Pylades (Julian Amir Lacey) sich im körperintensiven Ausdruck verdichtet, weil die beiden Tänzer die Übergänge von Transzendenz, Emotion und Erotik auflösen. Nur die Figur des Thoas (Casey Ouzounis) fällt etwas ab. Im heutigen gesellschaftlichen Klima hätte Pina Bausch die skythischen ‚Barbaren‘ wahrscheinlich deutlicher differenziert. In den Gruppenszenen greift die Dresdner Rekonstruktion nicht ganz so verdichtend wie bei den Soloparts.
Gewiss fehlen dieser Reproduktion das frühere Fluidum der Rebellion und die Opposition gegen nur dekorative Bewegungen, die Gastspiele des Tanztheaters Wuppertal Pina Bausch in Ballettzentren zu Fanalen des Aufbruchs machten. Aber das Außerordentliche bleibt spürbar. Es liegt an der Stückentscheidung, wenn sich Revolution zum Ritual verdünnt: Zur Penck-Ausstellung im Albertinum hätte Pina Bauschs „Kontakthof“ weitaus besser gepasst. Andererseits werden in „Iphigenie auf Tauris“ durchaus Analogien zwischen Pina Bausch und Ruth Berghaus deutlich. Auf hohem Niveau fordert der Abend heraus zum Nachdenken über Nahrung und Ausscheidungen des Monsters Zeit.
In einer Theatergegenwart, in der Gluck-Opern oft zur Aufgabe der Tanz-Sparten erklärt werden, ist die Sensation der Reanimierung des Genres ‚Tanzoper` durch Pina Bausch nicht mehr nachvollziehbar. Die Krise dieser Neueinstudierung liegt dennoch nicht im Tanz. Offenbar hat sich parallel zur atomisiert präzisen Reanimation der Choreographie niemand mit Pina Bauschs Musikverständnis und dessen Transformation auf heute mögliche Interpretationsstandards auseinandergesetzt. Deshalb gerät das Verhältnis zwischen Tanz und Musik in unangemessene Schieflage. Denn der Gluck-Kenner Jonathan Darlington ist im Dienst an der Pina Bausch Foundation viel zu devot. So kommen die belebenden Funken einzig aus dem von Gerd Amelung zum federnd-schlankem Vortrag motivierten Sächsischen Staatsopernchor. Natürlich verteidigt die Staatskapelle ihren Spitzenstatus, wirkt vor dem ästhetischen Phänomen Pina Bausch allerdings etwas einsilbig: Gluck klingt hier wie Mozart unter der Kuscheldecke. Von den Solisten vermittelt nur der Bariton Sebastian Wartig als Orest das, was die deutsche Fassung von Glucks „Iphigenie auf Tauris“ ausmacht. Er ist der einzige im Sängerensemble, der Blicke vom Notenpult aus der Proszeniumsloge zu seinem Tanz-Double richtet und musikdramatische Interaktion will. Sonst bleibt der Eindruck bipolar: Es gibt keine Brücke vom Edelvibrato, mit dem Gabriela Scherer die Titelpartie durchflutet, zur aufwühlenden Bühnen-Iphigenie Sangeun Lee. Auch Joseph Dennis (Pylades), Lawson Anderson (Thoas) und Roxana Incontrera (Diana) zeigen wenig sängerischen Mut.
Auf der szenischen Seite ragt die Gesamtleistung weit über eine erkaltete Rekonstruktion hinaus. Die Wiederbeatmung durch die Protagonisten der ersten Stunde ist ein Glücksfall für das Semperoper Ballett. Künstlerische Bilanz: Erfreuliche tänzerische Rendite aus der Nibelungentreue zum Tanztheater-Alphatier Pina Bausch und ein für die Sächsische Staatsoper bedauerlicher Verlust an musikalischem Eigenkapital.