Ensemble in „Paradigma”

Hoffnungszeichen

Russel Maliphant/Sharon Eyal/Liam Scarlett: Paradigma

Theater:Bayerische Staatsoper, Premiere:04.01.2021

Die Bühne ist wie leergefegt. An den Blick aufs Nichts schmiegen sich Soundcluster des britischen Musikers Barry Adamson. Sie verändern sich in den folgenden 30 Minuten ständig. Durch das elektronische Dahinschlurfen werden Assoziationen an Wasser oder Wind geweckt. Bis hin zu jazzigen Klängen weitet sich das vokal-instrumentale Singen. Die Musik kommt vom Band. Der verwaiste Zuschauerraum bleibt bei diesem Ballett-Stream ausgeblendet.

In der achten Ausgabe der Corona-Montagsstücke – dem rein digitalen Start der Bayerischen Staatsoper ins neue Jahr – meißeln Scheinwerferspots und eine Kameralinse erst den Tänzer Jonah Cook, dann Jinhao Zhang aus der Bühnendunkelheit und wabernder Bildschirmschwärze. Man selbst hängt einsam in bequemen Klamotten hinterm heimischen PC und hofft auf eine störungsfreie Übertragung.

Russel Maliphant: „Broken Fall“

Vom Bayerischen Staatsballett erstmals 2012 einstudiert steht Russel Maliphants Pingpong um Off-Balance-Gefahren und die Risikobereitschaft, sich innerhalb einer Trio-Konstellation immer wieder zu lösen, erneut auf dem – zunächst nur virtuellen – Spielplan. Seine Schärfe zieht das zeitlos abstrakte Stück aus betörenden skulpturalen Momenten und dem ständigen Auf und Ab exakt zum Takt oder gegen den melodischen Strich ausgeführten Schritten, tollkühnen Hebungen bzw. dem rasant unerwarteten (Sich-)Fallen-Lassen der Tänzerin – aus dem Stand von den Schultern ihrer Partner oder bis kurz vor Aufprall (auch des Kopfes) auf den Boden.

Die Gespanntheit zwischen den Männern durchbricht Jeanette Kakareka athletisch-lässig von hinten heranschreitend. „Broken Fall“ entstand 2003 auf Wunsch der fulminanten Tanztechnikerin und Ausnahmeballerina Sylvie Guillem. Kakareka indes umgeht mit ganz eigener, faszinierend bestechender Bewegungssorgsamkeit die Verlockung nach exorbitanter turnerischer Prahlerei. Langsam baut sich um sie herum die Sogkraft eines Perpetuum Mobile auf. Was für ein perfekt austariertes wechselseitiges Kräftemessen! Konzentration und Präzision im Dreiecksteam auf höchstem Niveau. Ins Dunkel am Ende verabschiedet sich die Frau allein.

Sharon Eyal & Gai Behar: „Bedroom Folk“ (Münchner Erstaufführung)

Eine solche Verselbstständigung gelingt im anschließenden „Bedroom Folk“ von Sharon Eyal niemand. Mehr als kurze Ausreißer, und sei es ein Wackelkopf, sind alles. In ihren eigenwillig stimmungsgeladenen, oft exzessiven, teils entmenschlichten Werken treibt die Israelin – am liebsten vom Puls elektronischer Musik aufgeputscht – komplette Kollektive wie eine Eins über die Bühne. So Krasses oder Martialisches passiert in dem 2015 vom Nederlands Dans Theater uraufgeführten Stück nicht. Feuerrot blutet hier nur der Hintergrund.

Dicht aneinander gedrängt starten je vier Männer (Severin BrunhuberMatteo DilaghiNicholas LosadaRobin Strona) und Frauen (Carollina BastosElisa MestresMarta Navarrete VillalbaVera Segova) trippelnd im Pulk. Erst smart beschwingt dank Ori Lichtik, der seinem Sounddrive auch lateinamerikanische Rhythmen untermischte. Den Protagonisten fällt sichtlich schwer, sich gleich einem ferngesteuerten Schwarm einfach aus dem Bauchgefühl der Bewegungsarchitektonik und subtil wandelnden Schrittmustern Eyals total hinzugeben. Alles wirkt noch zu kontrolliert, im Unisono zu persönlichkeitsstark. Später gehen ihre Seelen flöten und das kuriose Partyvolk überrollt zombiehafte Melancholie. Ganz ehrlich: Kracher dieser Art zünden im Theater definitiv besser.

Lange schon hatte man den Weckruf „Vorhang auf für das Bayerische Staatsballett!“ herbeigesehnt. Als energetisches Lebenszeichen einer pandemiebedingt ins künstliche Koma versetzten Sparte. Als es nun soweit war, schauen tatsächlich rund 21.000 Menschen von zuhause aus zu. Sehr viele für einen in Monaten der Krise neu geschnürten dreiteiligen Ballettabend moderner Prägung, dessen Aufzeichnung am 18. Dezember nur applauslos-trocken erfolgen konnte. Völlig zu überwältigen vermag die Online-Premiere „Paradigma“ trotz der hohen Sehnsuchtserwartungen dennoch nicht. Es fehlt einfach dieser banal unverzichtbare Funke von Ausgehreiz und -glanz, der gemeinhin entsteht, wenn Interpreten und Publikum sich an einem Ort für eine Vorstellung verabreden.

Liam Scarlett: „With a Chance of Rain“ (Europapremiere)

Freilich tanzen die Ersten Solisten Ksenia RyzhkovaLaurretta SummerscalesJonah Cook und Emilio Pavansowie die Solisten Elvina IbraimovaMadison YoungAriel Merkuri und Jinhao Zhang den zum Schluss platzierten Begegnungsreigen „With a Chance of Rain“ als wäre das musikalisch von Rachmaninows Präludien und der abschließenden Elegie getragene Stück ein Klacks. Durchwegs taff im fliegenden Wechsel jugendlicher Verspieltheit und gereifter Verbunden- wie Unentschiedenheit. Stets schwelgen sie überaus akkurat in emotionaler Unstabilität dahin – sei es zu viert, zu dritt, verflochten zu Paaren oder allein wie Emilio Pavan in seinem zentralen Solopart. Struktur und Inhalt – alles formvollendet.

Liam Scarletts choreografisches Oktett wartet mit bester neoklassischer Machart auf und kommt in seiner sportlichen Grautönigkeit völlig ohne Glamoureffekte aus. Dazu arbeitet Pianist Dmitry Mayboroda mit beachtlichem Live-Gespür und unablässig im Dialog mit den Tänzern Rachmaninows feine Nuancen innerer Transzendenz heraus. Damit kann es dieser Halbstünder ästhetisch mit Jerome Robbins wunderbarem Chopin-Einakter „In the Night“ aufnehmen, den Ballettchef Igor Zelensky bereits in seiner ersten Saison aus dem Repertoirefundus geholt hat.

In Zeiten globaler Verbannung von Künstlern hinter die Kulissen und der Möglichkeit, über Vorstellungen darstellerisch weiter in neue Stücke hineinzuwachsen, setzen alle drei Teile von „Paradigma“ ein einprägsames Hoffnungszeichen. Auf jeden Fall absolut sehenswert.

 

Noch bis 6. Februar 2021, 18.59 Uhr ist der Dreiteiler „Paradigma“ als Video-on-Demand für 9.90 € verfügbar: Die Aufzeichnung der Staatsballett-Corona-Fassung von Ray Barras „Schwanensee“ mit Ksenia Ryzhkova, Jinhao Zhang und Emilio Pavan in den Hauptrollen ist außerdem weiterhin bis zum 27.1. über ein 24-Stunden-Ticket abrufbar. Und für den Tschaikowsky-Hyperklassiker gilt: Man will ihn wiedersehen. Denn: einmal ist keinmal – und jede Besetzung eine Entdeckung für sich.