Foto: Die Uraufführung "Die Vaterlosen" am Theater Regensburg. Felix Steinhardt, Johanna Wieking, Jacob Keller, Pina Kühr und Thomas Birnstiel (v.l.) © Sarah Rubensdörffer
Text:Martin Bürkl, am 6. November 2014
Die kleine Studiobühne ist gänzlich mit rostbrauner Erde bedeckt, vorsichtig gestapelte Einmachgläser stehen in mehreren Reihen wie Raumteiler herum. Gefüllt sind sie mit allem, was man in einem Haushalt finden kann. Jenseits des üblichen Obsts und Gemüses sind da Gewürze, Nudeln, Medikamente, Kinderkleidung; auch eine Uhr ist zu entdecken. Konservierte Kindheits- und Jugenderinnerungen einer ungarischen Familie, ausgewählt von der Bühnenbildnerin Anna Schurau.
Im 140 Leute fassenden Regensburger Theater am Haidplatz erblickt ein starker Text das Licht der Welt. Ein Text mit reichlich Parallelen zu Formen des Neuen Hörspiels: ineinandergreifende Erzählstränge von sechs Figuren, die manchmal miteinander sprechen und oft aneinander vorbeireden. Figuren, die gleichzeitig laut denken und schlafwandlerisch von denselben Dingen erzählen, dies aber fast nie gemeinsam tun. Eine Collage der Erinnerung, der Interpretation und gegen Ende tatsächlich auch der Reflexion. Allerdings setzt diese erst dann ein, als es zu spät ist.
Die Geschichte: Das Auseinanderbrechen einer ungarischen Familie von 1982 bis 2010. Die Handelnden: Fünf Kinder (m/w), eine Mutter. Mitgedacht sind zwei weitere Personen: Der nie anwesende Vater, der nach der Wende als LKW-Fahrer versucht, vom Bock aus die Familie zu ernähren und der kranke, uneheliche Sohn, von dem wir nur wissen, dass er bis zum frühen Tod alle finanziellen Mittel für ärztliche Behandlungen bindet. Und er bindet alle Liebe der Mutter. Die „Vaterlosen“: ein Text, der bereits alles aussagt, der sich sehr gut liest und der perfekt für eine vielschichtige Radioarbeit wäre. Die Kinder erzählen im historischen Präsens, in litaneihaften Dialogfolgen, in stark stilisierter, jedoch sehr nahbarer Sprache. Was üblicherweise in der Regieanweisung steht, wird erzählt.
Michael Lippold (Regie) und Stephanie Junge (Dramaturgie, auch Co-Übersetzerin des ungarischen Originaltexts „Apátlanok“) lassen die erzählte Handlung selten mehr als nur anspielen, beschränken sich jedoch nicht auf das Referieren des Textes. Sie ziehen eine zusätzliche Ebene ein zwischen Hör- und Schauspiel. Eine Ebene, die nicht durchweg fruchtbar gemacht wird, aber, über weite Teile des siebenaktigen Stücks, eine anregende Kommentarfunktion annimmt. Wenn das gemeinsame Weihnachtsbaumschmücken zum schlichten Gläserstapeln wird, zum Stapeln der mit Lichterketten, Tannenzweigen und Süßkram gefüllten Behälter zu einer Pyramide, gerät die Familienzusammenkunft immer mehr zur Farce. Die ausgetragenen und nicht ausgetragenen Zwiste der unterschiedlichen Lebensentwürfe, Geldsorgen und Ideologien reißen neue Gräben zwischen den Kindern auf, schütten andere wieder zu. Von Feier zu Feier neue Konstellationen – nur die anfangs starke Mutter zieht sich immer mehr zurück. Soweit, bis die Rolle kaum mehr wahrnehmbar ist. Trotzdem: Alle sind immer anwesend, keine Aufgänge, keine Abgänge, keine Vorhänge zwischen den Akten.
Weniger gut funktioniert die Inszenierung in ihren Extremen, wenn sie aus der Zwischenrolle zwischen Schau- und Hörspiel ausbricht: Wenn eine Autofahrt seifenopernhaft mit zu viel Energie und komödiantischem Stress nachgestellt wird. Oder beim genauen Gegenteil: Wenn zur Hochzeit der älteren Tochter nur die voraufgezeichneten Stimmen im Raum erklingen – hier hört man schnell, wer eine große, präsente oder besondere Stimme hat: Thomas Birnstiel sonor und souverän als ältester Sohn Tomi, der in der Rolle des Ersatzvaters die Fäden in der Hand hält, Johanna Wieking als jüngere Tochter Fester mit leicht überdrehtem, ganz eigenem Klang und das nölig-altkluge Nesthäkchen Simon, das nach und nach das Ruder der Familie an sich reißen möchte – grandios gesprechspielt von Jacob Keller. Bei den übrigen reicht die rein akustische Energie (ohne schauspielerisch-körperliche Präsenz) nicht immer aus. Der Hörspielpart – der ja den Text als das nimmt, was er ohnehin zu sein scheint – wird zum Durchhänger.
Die Uraufführung der „Vaterlosen“ bleibt aber trotz der weniger fruchtbaren Passagen eine spannende Ensemblearbeit, bei der die Dialoge toll austariert ineinandergreifen. Was dabei für das deutsche Publikum vielleicht zu stark chiffriert ist, dürfte Ende November beim Gastspiel am Festival für zeitgenössische Dramatik (Kortárs Drámafesztivál) in Budapest offenkundig sein: Der Zerfall der Familie als Sinnbild für das Erschlaffen der ungarischen Demokratiebewegung ist auch ein Vorwurf des Autors an seine Landsleute, die dem erstarkenden, autoritären Ministerpräsidenten Viktor Orbán wenig entgegenzusetzen haben.