Foto: Das ägyptische Klassenzimmer. Martin Tzonev (Mitte hinten), Katharina Platz (vorne) und der Chor der Oper Bonn © Thilo Beu
Text:Andreas Falentin, am 12. März 2018
Laura Scozzi erfindet eine Parallelhandlung zu Philip Glass‘ „Echnaton“ und macht, mit starken musikalischen Partnern, Glass‘ Musik auf erstaunlich intensive Weise hörbar.
Mit „Echnaton“ beschloss Philip Glass 1984, beauftragt von der Stuttgarter Oper, seine von ihm selbst so betitelte Operntrilogie. Wie in den Vorgängerwerken „Einstein on the Beach“ und „Satyagraha“ erzählt Glass hier bewusst keine Geschichte, reißt lediglich ein Thema an, schlägt ein Kapitel auf. Originalquellen werden, teilweise in Originalsprache, mit wenigen Sekundär- und Originaltexten zu einer losen, linearen, mit einem überraschenden Salto Mortale ins Hier und Jetzt endenden Dramaturgie verbunden. Der Pflock, den der Pharao Echnaton mit seiner Einführung einer monotheistischen Religion um 1400 v. Chr. nach Meinung des Komponisten und seines Autorenteams gültig in die Geschichte eingeschlagen hat, soll so sinnlich erfahrbar werden.
Die Regisseurin und Choreographin Laura Scozzi begegnet dieser ungewöhnlichen Vorlage mit zwei Strategien. Zum einen gelingt es ihr, durch einfache, klare und klug disponierte Vorgänge auf der Bühne, die Musik hörbar zu machen. In Bonn sind – ein oft geäußerter Vorwurf gegen Glass’ Musik – keine Wiederholungen zu hören, sondern Metamorphosen, feine und feinste Verästelungen eines überraschend oft raumgreifend expansiven Klangs. Dass dieser so für sich einnimmt, liegt an Benno Schachtner, der die Titelrolle mit ausgeglichenem Counter subtil und eindrücklich gestaltet. Es liegt am Ensemble und an den Kollektiven. Das Beethovenorchester, besonders die Flöten und Klarinetten, scheint vor Begeisterung auf den Stuhlkanten zu sitzen, so lebendig klingt diese Musik hier. Chor und Solisten überwältigen geradezu mit Klangwucht und souveränem Feintuning. Und Stephan Zilias, der Erste Kapellmeister der Oper Bonn, koordiniert all dieses Engagement, als hätte er nie etwas anderes getan.
Die zweite Strategie der Regisseurin ist eine Inhaltliche. Sie will erzählen und baut sich daher eine Parallelgeschichte, die auch die Glass’sche Materialsammlung erlebbar machen soll. Zwischen den dunkelgrauen Backsteintürmen und Wänden, mit denen Natacha Le Guen de Kerneizon einen so monumentalen wie wandelbaren Raum gestaltet, befindet sich zu Beginn ein Klassenzimmer. Der Lehrer – Thomas Dehler übernimmt souverän die Sprechtexte, die Glass dem Chronisten Amenothep zugedacht hat – hadert mit seinen uninteressierten, manierenlosen und unpünktlichen Schülern. Diese entpuppen sich später als Tänzertruppe, die den Abend an vielen Stellen durch unkonventionelle, laut Programmheft im Zusammenwirken mit Laura Scozzi entstandene, Street-Dance-Choreographien bereichern. Und dann gibt es das Mädchen (frisch und präzise: Katharina Platz), das durch den Unterrichtsgegenstand – eben die Regierungszeit des Pharaos Echnaton – eine Art Erweckungserlebnis hat. Sie träumt ihn sich herbei, sieht sich als seine Jüngerin, setzt seine Ideen für sich absolut und radikalisiert sich. Und sie endet in der vorletzten Szene, als Vergangenheit und Gegenwart endgültig ineinander fließen, als Selbstmordattentäterin.
Das klingt in der Nacherzählung extrem krude und versponnen. Ist es aber nicht. Weil es zu der Dramaturgie des Stückes passt. Weil sich in Echnatons Werdegang zahlreiche Ideale junger Menschen – perfekte Liebe, absolute Selbstbestimmung, harmonisches Familienidyll – widerspiegeln. Und weil es einfach unglaublich gut umgesetzt ist. Vielen, fast allen Bildideen von Laura Scozzi eignet, wesentlich befördert durch Fanny Broustes Kostüme, etwas Prätentiöses, ja Plakatives. Dennoch sind die Bilder und Abläufe in sich stimmig, öffnen Assoziationsräume, versinken nicht im Klischee und fallen auch nicht in Realismus-Stereotypen. Ein Beispiel: zentrale Stelle von Stück und Partitur ist Echnatons original überlieferter Sonnenhymnus, das Fundament seiner monotheistischen Religion. Die Bühne wird auf voller Höhe und Breite von einer Mauer dominiert, die die Schüler nach einem Museumsbesuch gebaut haben. Echnaton singt durch ein Fenster. Während seines Gesanges werden nacheinander ein Tempel, eine Synagoge, eine Kirche, eine Moschee in stilisierter Form auf die Mauer projiziert, es kommt jeweils ein junger Gläubiger und propagiert per Spraydose die Größe seines Gottes. Schließlich kommt der Graffiti-Sprayer Robin Brune und übersprüht die dogmatischen Meinungsäußerungen mit einer gesprayten Friedenstaube mit Ölzweig. Kunst am Bau sozusagen, heftig akklamiert. Die Szene ist gedanklich ein einzelnes Plakat, gerät aber auf der Bühne spontan, lebendig und bedenkenswert. So halten Scozzi und ihr Team „Echnaton“ fast drei Stunden lang bewunderungswürdig im schwebenden Gleichgewicht.
Bis kurz vor Schluss. Da werden, wie weiland Prinzessin Diana und seitdem viele öffentliche Tote, die Selbstmordattentäterin und ihre Opfer betrauert, von Eltern und Lehrer, Angehörigen und Schülern. So weit, so gut. Ein weiteres, stimmig ausagiertes Plakat. Doch dann kommt ein muslimisch wirkendes Paar. Und trauert mit. Dann ein einzelner Mensch jüdischen Glaubens. Ein Rollstuhlfahrer. Punks. Ein schwules Pärchen. Ein Afro-Amerikaner im bunten Hemd mit einer blonden, schwangeren weißen Frau. Und der Theaterabend ist herabgestürzt in die schaurigen Untiefen der Political Correctness. Ethik-Wellness auf dem Achtsamkeits-Ponyhof. Arrgh!
Hat man sich beruhigt, darf und muss man nach dem Grund suchen. Was bleibt, wenn man sich nicht der Ironie bedienen will? Wie kann man den State of the Art der monotheistischen Gesellschaften heute mit einem hoffnungsfrohen Blick in die Zukunft zu versehen und nicht in dumpfer, theatralisch unproduktiver Depression versinken? Da trug das Verfahren der Inszenierung das Scheitern, wenn auch auf denkbar höchstem Niveau, wahrscheinlich bereits von Beginn an in sich.
Das Publikum, deutlich jünger im Schnitt als üblich in Bonner Premieren, applaudierte heftig.