Text:Dieter Stoll, am 28. Januar 2013
Sogar bei der Höllenfahrt mag dieser Serien-Grapscher nicht loslassen: Wenn ihn der Komtur den tödlichen Händedruck quasi von der Bettkante aus verpasst hat und der Boden sich begehrlich öffnet, bleibt Don Giovanni an die grade aktuelle Nackte geklammert, die er zur Party-Animation gebucht hatte und nimmt sie als Escort-Service abwärts mit. Man kann sich schlimmere Todesarten vorstellen, was soll also sein Gejammer. Denn vorher zeigt Mozarts Akkord-Casanova in der erzählfreudigen Nürnberger Inszenierung von Georg Schmiedleitner nicht den Hauch von Gefühl, immer nur den blank gezogenen Zynismus des Spielers, der die Frauen wie Trophäen sammelt und beiseite stellt und die eigene Selbstzerstörung als letztmöglichen Kick nach Rotwein- und Kokain-Missbrauch herausfordert. Kein eleganter Verführer ist da zu sehen, eher die wandelnde Provokation eines pragmatischen Macht- und Lustgewinnlers, der seine Schlossfest-Orgie mit Pappkartons vom Pizza-Express versorgen lässt, während er robust ins volle Menschenleben greift. Die Damenwelt weiß seine Talente durchaus zu schätzen, hätte sie aber gerne exklusiv in Anspruch genommen. Es ist also gar nicht einfach, mit ihr von Moral zu sprechen.
Vergegenwärtigung und zeitlose Metapher zugleich strebt der Bühnenraum von Florian Parbs an. Ein Spiegelkabinett, das auch zum hermetischen Glaspalast gefaltet werden kann, umschließt die Spielfläche. Darin kann nicht nur der Titelheld jederzeit seine Wirkung überprüfen oder seine Eitelkeit reflektieren, denn die ganze Szene wird vervielfältigt, sogar die Zuschauerränge werfen ihr Gegenbild und den Dirigenten darf man, vom Pult und von den Monitoren her abgenommen, gefühlte hundert Mal sehen. In diesem Rahmen geht es handfest zur Sache – mit Macho-Gedöns und Zicken-Alarm. Giovanni und sein Sidekick Leporello treten wie ein pomadisiertes Komiker-Duo aus dem Mafia-B-Picture auf. Der rabiate Herr macht den Frauen Angebote, zu denen sie offenbar nicht nein sagen können und der Diener spuckt kritische Randbemerkungen aus, während er willig die Requisiten zum Vollzug von Sex und Mord reicht. Zeitweilig sind beide mit Handschellen aneinander gefesselt, was das kuriose Schicksalspaar samt der ewigen Frage nach ihrer Beziehung zueinander wie ein Puppenspieler-Duo erscheinen lässt – der Eine ist des Andern Bauchredner und sei es sogar dann, wenn auf diese Weise eine intime Liebesszene zum verkappten flotten Dreier wird. Da hat die Inszenierung ihre stärksten Momente.
Noch besser ist sie im musikalischen Übermut, wo Don Giovanni die rhythmischen Nebenmotive mit dem Tanzbein aufnimmt und diese spielerische Pose zur Stalker-Bedrohung hochschraubt. Momente, in denen die sonst nicht sonderlich mitleiderregenden Frauen (eine schicke Donna Anna im Emotions-Defizit, eine Elvira als hysterische Diva mit Rollkoffer und Revolver im Strumpfband sowie die aus dem nächstbesten Frisiersalon wahlweise zu Hochzeit oder Affäre herbeigeeilte Zerlina) eben doch als Opfer erkennbar werden. Unschuldig sind sie alle nicht, und das betrifft auch die begleitenden Herren, denen zur zwischenmenschlichen Besitzstandswahrung nur brutale Gewalt einfällt. Die Aufführung zeigt allzu gerne, wie sowas aussieht.
Dass Georg Schmiedleitner (der nach „Fidelio“, „Macbeth“ und „Elektra“ erst die vierte Opernregie lieferte) seine wohlbegründeten Ansprüche als Schauspielregisseur nicht aufgibt, ist in der Zwischenwelt der Rezitative besonders deutlich. Da macht er sich breit, dehnt die Übergänge zu Charakter-Studien und traut den Sängern alles zu. Der Vertrauensvorschuss wird nicht immer quittiert, denn jenseits unauflösbarer Mozart-Hörbilder steigert die Freiheit der Szene die Unsicherheit der Darsteller. Wo Schmiedleitner, der während der Proben selbstironisch eingestand, dass sich Mozart mehr als Strauss und Verdi „in die Inszenierung einmischt“, diese Fesseln ruckartig lockert, beginnt mancher Sänger im Tableau der Einfälle zu taumeln. Der Chor zwischen Dorf-Disco und Fastfood-Orgie gerät auch ins Schwitzen, denn für Vermutungen über magische Mythen gibt solche Aktualisierungs-Action nichts her. Dennoch, man ist – zustimmend oder ablehnend – gut beschäftigt mit der Einordnung der gestreuten Akzente, die wie Erleuchtungssignale über allen Figuren schweben.
Größere Probleme hat die Nürnberger Produktion mit der musikalischen Seite. Generalmusikdirektor Marcus Bosch setzt auf den „historisch orientierten“ Mozartklang, bietet so auch den alle zehn Jahre mit einer neuen „Giovanni“-Deutung versorgten Stamm-Zuschauern angenehm irritierende Einsichten. Als erklärter Gegner der „Klassik-Radio“-Entspannungsideologie sucht er den angemessen aggressiven Tonfall für die ungeheuerliche Geschichte, nimmt Anlauf zu heftigen Zwischenspurts (was die Ensembles bedrohlich wackeln lässt) und feuert die Musiker der Staatsphilharmonie mehr an als die Sänger. Denn ein homogenes Mozart-Ensemble hat Nürnberg derzeit nicht zu bieten. Sonst könnte der stilistisch perfekte Tilman Lichdi als Don Ottavio nicht gar so einsam wirken – allenfalls von Randall Jakobsh in der Titelrolle an der Spitze begleitet. Er ist nun wirklich ein Phänomen, alles andere als die typische Mozart-Stimme (in dieser Saison auch als Meister Pogner und Fliegender Holländer im Einsatz), aber in Boschs aufgerauter Amadeus-Analyse und Schmiedleitners Blick auf einen brutalen Kindskopf im freien Fall passt das Grollen tief aus dem Innersten bestens. Enttäuschend sind, außer Christiane Marie Riedl als wepsige Zerlina, die Damen. Weder Michaela Maria Mayer (Anna) noch Hrachuhí Bassénz (Elvira) haben an den entscheidenden Stellen die nötige dramatische Durchschlagskraft. Was Sébastien Parotte als faxenmachender Giovanni-Kopilot Leporello mit schlenkernden Stenzen-Bewegungen und irrlichternden Seitenblicken andeuten soll – ein Hinweis auf Pat und Patachon wird es ja wohl nicht gewesen sein – bleibt offen. Am Ende, wenn der tote Komtur beim kalorienfreien Abendmahl mit der Nackten auf der Tafel für Ordnung gesorgt hat, werden alle Spiegelwände abgeräumt. Die Moral zur Geschicht präsentiert das Ensemble der Überlebenden auf kahler Bühne im Arbeitslicht – und zieht nach so viel aufgebäumter Selbstgewissheit unbehaglich von dannen.
Man muss die Aufführung, bei deren Premiere Georg Schmiedleitner etliche Buh-Rufe trafen, auch in die jüngste Nürnberger „Don Giovanni“-Rezeptionsgeschichte einordnen. Vor zehn Jahren hatte hier Klaus Kusenberg, der Schauspieldirektor von nebenan, während der Proben aufgegeben, als Ersatz gab es ein im Kollektiv erarbeitetes halbszenisches Gefuchtel, das von Teilen des Publikum als Gegenpol zum Regietheater sogar begrüßt wurde. Intendant Wulf Konold sah das damals zurecht anders, aber er fand als Ersatz nur Willy Deckers Dresdner „Giovanni“-Abstraktion, die im Nürnberger Nachbau mehrere Spielzeiten inspirationsfrei dahindümpelte. So gesehen ist dem Team Bosch/Schmiedleitner mit allen Stärken und Schwächen ihrer Produktion ein klarer Fortschritt geglückt. Im Herbst gehen sie also gestärkt gemeinsam den neuen Nürnberger „Ring“ an.