Foto: Sarah Maria Sun in "Kolik" © Ute Schendel
Text:Hannah Schmidt, am 20. Oktober 2018
Wenn Rainald Goetz‘ Texte eines fürchten, dann ist das realitätsferne Abstraktion. Seine Wortmonsune entstehen aus der Unmittelbarkeit und sind für die Unmittelbarkeit konzipiert, fürs Lebendig-Werden im Lesen, in der Aussprache, auf der Bühne. Erstaunlich, dass es 32 Jahre brauchte, bis jemand auf die Idee kam, aus Goetz‘ zweitem Werk und Bühnenstück „Krieg“ ein Musiktheaterstück zu machen – und die Sprache mit Musik, der wohl am unmittelbarsten wirkenden Kunst, zu verweben. Das Stück von Komponist Jannik Giger und Elektronik-Soundkünstler Leo Hofmann ist jetzt an dem kleinen Theater Gare du Nord in Basel uraufgeführt worden, Regie führte Benjamin van Bebber. „Kolik“ konzentriert sich dabei vor allem auf den gleichnamigen dritten Teil der Goetz-Trilogie: Nachdem in „Heiliger Krieg“ und „Schlachten“ die Welt durch Krieg und die Familie durch Resignation zerstört wurden, ist der Protagonist hier allein seinem Selbstekel ausgesetzt. Er kotzt sich aus über das Leben, die Sprache, sich selbst, er fleht und schimpft und säuft sich langsam zu Tode.
Am Berliner Ensemble ist es in der aktuellen Produktion der Trilogie ein gestandener Mann, der rund 60 Minuten lang den höllischen Monolog ins Off des stummen Publikums schreit. Giger und Hofmann entschieden sich in ihrer Produktion aber für eine Frau als Protagonistin: die Sopranistin Sarah Maria Sun. Ihr schrieben sie eine Partie auf den Leib, die so verzweifelt und grotesk, so exzessiv und selbstzerstörerisch ist wie der Text selbst. Da schlagen die gegensätzlichsten Stimmungen binnen Sekundenbruchteilen um wie bei einem Kind, das vergessen hat, warum es weint. Sun ächzt und jammert erbärmlich, sie hyperventiliert oder verschluckt krächzend ihre eigenen Töne – und dann wieder gleißen ihre Linien schmerzhaft wie zu helles Licht auf einem spiegelglatten See. Ihre Stimme verleiht dem Text eine ungewöhnliche Sensibilität, lässt ihn mitunter beinahe zerbrechlich wirken – und genauso brutal: Ihr liturgisches „Ich liebe dich, ich liebe dich, ich liebe dich“ vermag seinen Sinn in dieser Oper gar vollständig zu verkehren.
Acht Musiker stehen Sun zur Seite, die Regisseur van Bebber als Figuren mit in die Handlung einbezieht. Stumm bewegen sie ihre Münder zu Stimmen-Clustern aus den Lautsprechern, die Leo Hofmann und Sun im Vorhinein aufgenommen haben: Verzerrt, gespreizt und übereinandergelegt formieren sie sich zu einem aberwitzigen Chor der inneren Persönlichkeiten. Sie repetieren die Gedanken der Protagonistin, gleichzeitig zerfasern sie durch ihr omnipräsentes Rauschen jede aufscheinende halbwegs gerade Überlegung. Zwischendurch dirigiert die Protagonistin das Spiel des Kammerorchesters, hochkonzentriert und streng, als versuche sie, die Finger an den Schläfen, ihre Gedanken sinnvoll zu ordnen. Man beobachtet einen verzweifelten Kampf um Kontrolle, der jedoch nur verloren werden kann. Von Zeit zu Zeit scheint die Musik stehenzubleiben, als sei die Platte gesprungen. Krampfartig wiederholen sich Worte, Motive und Taktfetzen, und manches klingt dabei tatsächlich wie Koliken unterm Stethoskop.
Schon in der textlichen Vorlage steckt ein musikalisches Konzept, das Giger neu kontextualisiert: strenge Rhythmik, experimentelle Klangsprache und Struktur. Im Prinzip ist Goetz‘ Text selbst bereits eine Komposition im Sinne einer symbolisch durchstrukturierten Partitur: Worte sind Motive, Wortkombinationen sind Themen. Goetz spielt mit ihnen, er variiert sie, stellt sie in neue Zusammenhänge, zitiert sie, demontiert sie. Dabei geht er vom Klang der gesprochenen Worte aus, mehr als von ihrer Bedeutung, denn die ist ambivalent. In der musikgewordenen Wiederholung entblößt sich die Uneindeutigkeit jedes Begriffs, und das reicht in Suns Ausführung mitunter bis ins Spielerische, Schwarzhumorige, Absurde: ein Wort so lange, so immer neu zu wiederholen, bis außer der Abfolge der Morpheme von ihm nichts mehr übrigbleibt. Das ist ein gemeines Spiel mit Assoziation und kognitiver wie emotionaler Verwirrung, das höllisch gut gelingt. Gigers Musik überträgt das Prinzip nämlich auch auf die Arbeit mit angedeuteten musikalischen Motiven: Da scheinen ein paar Takte Bach zu Anfang durch, aber auch eine Idee Lachenmann, Ligeti, Nono. Die dezenten Verweise huschen durch einen musikalisch mehr oder minder luftleeren Raum, in dem Goetz‘ Text, gleichsam irgendwie schwebend, von allen Seiten betrachtet und beleuchtet wird. Das ist abstrakt, passiert aber so zwingend und kompromisslos, dass man sich ihm kaum entziehen kann: Van Bebbers Dramaturgie öffnet eine Art Über-Raum, der das Publikum mitdenkt. Da hört die Protagonistin auf zu dirigieren, ihre Hände bewegen sich auf den Bildschirmen aber weiter. Sie klettert über so etwas wie aufgequollene Himmelsreste aus Bauschaum von der Bühne, und ihre Stimmen klingen im leergefegten Theaterraum noch immer. Stück für Stück zerlegt sich das Geschehen, und was bleibt, ist Dunkelheit und Klang. Das Ohr ist das erste Organ, das der Körper noch vor der Geburt ausbildet – und es ist das letzte, das aufhört wahrzunehmen. Ein bisschen scheint man nach dieser Kolik also selbst gestorben zu sein, hinabgespült in die Entbehrlichkeit. Unmittelbarer kann Goetz wohl kaum sein.