„Poor me syndrome“
Damit schwindet der letzte gute Wille dahin, in dem wiederholten Raus und Rein, Miteinander, Ohneeinander, Gegeneinander den beabsichtigten ganz ganz tiefen Sinn zu erkennen. Dass „der Mann“, Menha, es schwer hat mit sich selber und zwischen Schlaffheit und anfallartigem wildem Wedeln schwankt, zwischen ruppiger Abwehr und kläglichem Nähebedürfnis, das wird aus wenigen kurzen Aktionen klar. Wozu das andere kindische Brimborium? Wie sagte noch Isadora Duncan selig vor hundert Jahren, sinngemäß: bloß keine Flügel an Tänzer kleben, den Engel muss der Tanz selber ausdrücken können.
Während Natalia Horecna sich mit Hilfe des Dirigenten Jean-Michaël Lavoie für die Düsseldorfer Symponiker Teile aus Kompositionen von Béla Bartók, Alban Berg und Danys Bouliane ausgesucht hat und das Duo Probosci wie Wandermusiker mit Hüten auf der Bühne folkloristisch Angehauchtes aufspielen lässt, Timba Harris und Gyan Riley mit Violine und Gitarre, belässt es Remus ?uchean? bei seiner Uraufführung bei einem Werk, mit kalkulierter Klarheit von den Symphonikern aufgeblättert: Alfred Schnittkes „Concerto Grosso Nr. 1“ von 1977. So auch der Titel des Balletts, des ersten, das Sucheana je geschaffen hat. Weil er ja nun Ballettdirektor ist, an der Seite des künstlerischen Leiters Schläpfer, muss er nicht erst klein anfangen. Beide hielten es für notwendig, dass so ein Chef nicht nur die Tänzerseite kennt, sondern auch die Erfahrung, vor und mit den Tänzern, für sie, etwas zu erschaffen. Das der Öffentlichkeit präsentierte Ergebnis war ein sympathischer, aber ziemlich scheiternder Versuch. Die stärksten Momente, wenn also Spannung oder Fragen durchs Geschehen zogen, waren jene, in denen Tänzer nur standen und schauten. Oder wenn jemand nur ging, Schritt für Schritt, wie im respektvollen Zwiegespräch mit dem Boden.
Concerto, nicht ganz grosso
Von links oben ragen fünf Fenster herab, scheinbar ausgestülpt wie Röhrengänge an Flughäfen, nur eben eckig und ohne Anschluss: eine eindrucksvolle Kreation von Darko Petrovic, mit mattem Licht in wechselnden Farben. Wenn Schnittkes Musik mit Tönen auf einem scheppernden Klavier beginnt wie ein verstimmtes, verlorenes Lied, tritt Ann-Kathrin Adam auf, im einfachen halblangen Kleid und mit gesenktem Kopf. Bald wird sie von anderen, gleich Gekleideten, begleitet und angefasst, aufgerichtet, was sie abwehrt. Die anderen machen sich größer, vitaler, verschwinden, tauchen wieder auf, machen Gruppe, beugen sich, hüpfen, stampfen, starren sie an, die dann ihre eigenen Pirouetten dreht, schubsen sie und lassen sie allein. Die zweite von drei Hauptfiguren, Yuko Kato im roten Kleid, mit nach innen gekehrtem Blick, bekommt einen rotbehosten Herren bei- und angefügt, der sie hält und biegt und kurz anhebt, sowie drei tiefschwarze Bodenkriecher, die sich wie eine fiese Depression an ihre Fersen kleben. Nummer drei ist Marlúcia do Amaral im gelbgemusterten Kleidchen, die spielerisch mit den Händen flippt, mit den Füßen trippelt und häufig ihr Bein Amaral-mäßig in die Senkrechte streckt. Auch sie hat eine Entourage, einen Chor, der mehr stört als dass er dramaturgisch etwas zu sagen hätte außer „Menge“ zu sein, mal nah, mal ferner von der Solistin.
Sucheana lässt seine Tänzer oft wenden, schnell die Richtung wechseln, oder drehen auf flacher Sohle. Er zieht sie zu Boden, lässt sie rollen und Rad schlagen, aufstehen, die Hände und Knie strecken und anwinkeln, mal so, mal so, ohne erkenntlichen Grund. Das wirkt, bei den Gruppentänzen, unscharf und wird manchmal auch so getanzt. Natürlich fliegen Schläpferfloskeln durchs Geschehen; doch so lose hingeworfen und mit anderen Einfällen vermanscht, kommt ärgerliche Beliebigkeit auf. Dabei ist die Schnittke-Musik umso hörenswerter, ein ungeheuer ausdrucksvolles Wandern und Herumirren zwischen fernen, vielleicht schönen Erinnerungen, bis zum Cembalo-Barock, und bedrängenden Klangwolken oder hinabziehendem, giftigen Lärm. Dazu passte inhaltlich das für Streichorchester umgearbeitete Streichquartett opus 110 von Dmitri Schostakowitsch, das im Mittelteil des Abends die Grundierung für Marco Goeckes „Lonesome George“ bildete, eine Choreographie, die im Mai 2015 bereits Teil von b.24 war, benannt nach einer uralten Schildkröte, der letzten ihrer Art. Schön, den „George“ wiederzusehen: wie die anderen zwei in b.30 ein Stück über Einsamkeit, aber mit mehr Mut zum Tanz selber.
Gepanzertes Leben
In dem ständig benebelten, schwarzen, kahlen, karg beleuchteten Raum der Bühne treibt die dunkel gekleideten elf Tänzer eine Hektik an, die aus jeder neckischen T-Shirt-Beschriftung herausgewachsen ist. Dieses Ellbogenklappern, Armerotieren, Schulternheben, Händezittern und das Abtasten des äußerlichen Körpers, rauf, runter, überkreuz, wirkt wie ein unablässiges Versichern der eigenen Existenz, ein Buddeln nach dem ewig Unfasslichen. Abgrundtief gute Kunst.