Foto: Cecilia Bartoli in „Il trionfo del Tempo e del Disinganno“ © Salzburger Festspiele / Monika Rittershaus
Text:Joachim Lange, am 22. Mai 2021
Zu Pfingsten singt die Chefin nicht nur selbst. Sie denkt auch selbst. Cecilia Bartoli hat die Pfingsfestspiele als barocke kleine Schwester der Salzburger Festspiele mit großem persönlichen Einsatz in einem knappen Jahrzehnt nachhaltig nach ihrem Gusto profiliert. Mit einer insgesamt und jedes Jahr aufs Neue klug durchdachten Dramaturgie. Und mit sich selbst als Höhepunkt in jeder Inszenierung, in der sie dabei ist. Diesmal als Piacere, also das personifizierte Vergnügen.
Was man jetzt auf der Bühne des Hauses für Mozart erleben konnte, war dennoch nicht nur die große Bartoli-Show, sondern eine der Lage höchst angemessene musikalische Nachdenklichkeit: „Il trionfo del Tempo e del Disinganno“, also „Der Triumph von Zeit und Erkenntnis“, das erste Oratorium des 1707 noch jugendlichen Georg Friedrich Händel (1685-1759). Wie jedes seiner Oratorium aus der reifen Postopernperiode ein paar Jahrzehnte später war auch das schon eine verkappte Oper. Oder zumindest eine Steilvorlage für das Regietheater, heutzutage eine daraus zu machen.
Was der kanadische Opernroutinier Robert Carsen, der nie unter einen hohen garantierten Mindeststandard mit seinen Arbeiten geht (wieder in der Ausstattung von Gideon Davey), lieferte, passte genau zum Ende des nervenden Kulturlockdowns. Er entfesselte eine gezügelte Opulenz, die Freude machte, Tiefgang suchte, ohne zu provozieren und womöglich die gerade etwas milder gestimmten Götter Inzidenz und Corona durch Übermut allzu sehr herauszufordern.
Händels Diskurs über den Triumph von Zeit und Erkenntnis über Jugend und Schönheit ist inhaltlich so etwas ähnlich Nachdenkliches wie der Zeitmonolog der Marschallin aus dem „Rosenkavalier“ gut zweihundert Jahre später – nur eben mit verteilten Rollen. Gegen Ende begegnet die Schönheit sogar sich selbst ganz leibhaftig als junges Mädchen und als alte Frau. Dunkel gewandet triumphieren die Zeit, im Habitus eines Priesters und mit der geschmeidigen Stimme von Charles Workmann, und die Erkenntnis, als Therapeut in Anzug und Rollkragen mit stets griffbereitem Notizblock und der glasklaren Counterprägnanz von Lawrence Zazzo, über den jugendlichen Leichtsinn von Schönheit und deren Anwältin bzw. Managerin Vergnügen.
Die Schönheit – koloraturleicht und glockenklar ohne jeden Überdruck: Mélissa Petit – gewinnt bei Carsen ein Casting, das als TV-kompatible Show von heute beginnt. Die in ihrem roten Hosenanzug und mit Kurzhaarfrisur toughe Managerin des Ganzen (wie gesagt: Cecilia Bartoli ist das auf der Bühne und darüberhinaus) nimmt sich der anfangs noch schüchternen, dann auf Ruhm erpichten, schließlich an Erkenntnis der Vergänglichkeit reicheren jungen Schönheit an. Mit einem Vertrag, der ein wenig auch an einen Teufelspakt erinnert. Und mit aufmunternden Ratschlägen, die auf eigener Erfahrung beruhen.
Die beiden österreichischen Filmemacher Carmen Zimmermann und Roland Horvath (rocafilm) haben zum Auftakt ein Video gedreht, das der Salzburger Tourismusverband glatt für seine Werbung übernehmen könnte. Alles, was an der Salzach so schön ist, kommt vor. Und die gutgelaunten jungen Leute mit ihren „Salzburgs next top model“ T-Shirts sind es auch. Acht von Rebecca Howell perfekt aufs barocke Rockpotenzial choreographierte Tänzerpaare, ein Dutzend Statisten, ein Star-DJ (Henry Alexander Diaz), Maskenbildner und Garderobiere sorgen für den Rummel, der nach dem Casting, bei dem die Schönheit gewinnt, losgeht. Der rote Stern im Lichterglamour beim Aufmarsch der Kandidaten weist natürlich nicht Richtung Moskau, sondern auf jenen Starrummel, für den der potenzielle weibliche und männliche Nachwuchs immer wieder in allen möglichen Posen vor den streng dreinblickenden Juroren aufmarschiert.
Wenn die Chefin selbst singt, dann ist zur Freude ihrer Fans natürlich immer jede Menge Bartoli dabei. Perfekte Koloraturen und dieses mitreißende Charisma der Römerin, gegen das kein Kraut gewachsen scheint. Den Höhepunkt liefert sie freilich zum Hit des Abends, jenem berühmten „Lascia la spina…“ dessen berührende Melodie der clevere Theaterpraktiker Händel gleich mehrfach genutzt hat. Da erscheint die Bartoli zunächst wie im Raum schwebend über der Schönheit, der längst dämmert, dass Zeit und Erkenntnis wohl zumindest über alles Äußere triumphieren werden. Bartoli macht das perfekt und die Inszenierung bietet genau jenen Rahmen, in dem die Genialität Händels besonders leuchtet, wenn er die Musik fast still stehen lässt. Am Pult des eigens für die Bartoli kreierten Barockorchesters Les Musiciens du Prince-Monaco beweist Gianluca Capuana nicht nur genau das richtige Gespür für dieses Innehalten, er lässt es sich auch nicht entgehen, den Barock rocken zu lassen, wenn es passt.
Hinzu kommt, dass Carsen das, was an (Selbst-)Erkenntnis auf der Bühne verhandelt wird, auch optisch und ganz direkt in den Saal reflektiert. Im zweiten Teil des pausenlosen fast zweieinhalbstündigen Abends wird der nämlich mit allen im Schachbrettmuster maskiert sitzenden Zuschauern ein paar Mal auf der Bühne gespielt. Zeit und Erkenntnis verlassen uns dann singend – sozusagen hautnah – über den Zuschauerraum, während sich das Vergnügen demonstrativ die Lippen nachschminkt und sich mit einer trotzigen Bartoli-Kopfbewegung zur Seite hin und aufrechten Gangs verabschiedet. Der Schönheit ist das Riesen(notausgangs-)tor auf der leeren Bühne vorbehalten. Und den Zuschauern der erleichterte Jubel über die Rückkehr des „richtigen“ Theaters, das von der Faszination des gemeinsamen Augenblickes lebt!