"Carmen" als körperliches Kammerspiel in Baden-Baden

Herzkammer-Flimmern

Georges Bizet/Peter Brook: La tragédie de Carmen

Theater:Theater Baden-Baden, Premiere:09.04.2017Regie:Sofia SimitzisMusikalische Leitung:Simon Rössler

„Der Zucker fällt weg, dafür tritt Schärfe hervor.“ So kündigte ein Magazin die Baden-Badener Osterfestspiel-Neuinszenierung von Peter Brooks 1981 in Paris uraufgeführter „La tragédie de Carmen“ an, einer auf anderthalb Stunden Spielzeit „verdichteten“ Version von Georges Bizets „Carmen“-Oper. Schön wär’s gewesen.

Denn der Produktion fehlt nicht nur das Zuckerzeug, die Spanien-Folklore der Chöre und Ensembles, sondern weitgehend auch der Pfeffer, das südländische Temperament. Stattdessen erzählen Regisseurin Sofia Simitzis und Ausstatterin Janina Audick die stark gekürzte und veränderte Story von dem leidenschaftlichen andalusischen Zigeuner-Mädchen Carmen, ihren Liebhabern, dem Sergeanten Don José und dem Stierkämpfer Escamillo, sowie Josés Verlobter Micaela mit verhaltenem Herzkammer-Flimmern.

In und auf einer überdimensionierten blutroten Herz-Skulptur aus Kunststoff – die, wie auf einem Video-Film zur eingespielten Carmen-Ouvertüre zu sehen ist, während der Proben auch auf öffentlichen Plätzen der Bäder-Stadt zur Begutachtung präsentiert wurde –  turnen die Akteure herum, schauen auch mal aus der einen oder anderen Arterien- und Venenöffnung fiebrig heraus oder hocken in den Kammern der hälftig geöffneten, glühenden Blutpumpe.

Später taucht auf der Theater-Drehbühne, die anfangs mit einem Transparent als „Auto Parts“-Filiale ausgewiesen wird, ein schnittiges Rennauto aus bemalter Pappe auf,  vor dem sich Escamillo in Red Bull-Outfit als Rennfahrer-Double produziert. Natürlich nimmt er Carmen ab und an mit hinein in den heißen Schlitten, dessen Auspuff Spielzeug-Rauch ausstößt. Und im letzten Drittel des musikalischen Kammerspiels gibt es noch großformatig und von Glühbirnen umrahmt Carmens Schicksals-Spielkarte zu betrachten – mit Sensenmann-Abbild und weißer Todes-Rose.

Einleitend tritt Carmen im roten Jumpsuit auf. Später in den Liebesszenen trägt sie ein grünliches Schlauchkleid, das bäuchlings von einem rosig-wulstlippigen Ornament geschmückt wird, was an eine aufbrechende Vagina erinnert. Schlussendlich zeigt sich die Protagonistin in einem schwarz-rüschigen Tanzkleid. Micaela, die Briefe von Don Josés Mutter zu überbringen hat, ist in einem mit Briefpapier tapezierten weißen Brautkleid zu sehen. Don José kleidet sich dagegen stets in Trauer-schwarz. Nur im „Postlude“, als er die kniende, von einer wallend roten Tuchplane umhüllte Carmen hinterrücks ersticht, ist zumindest sein Oberkörper ganz nackt.

So fehlt es der im Bizet-Original mit sexueller Begierde aufgeladenen hochdramatischen Handlung in der Baden-Badener Fassung an jeglicher heroischer Attitüde. Sie ist auch musikalisch – wie angekündigt – zu einer entschlackten Kammeroper mutiert. Der ursprünglich opulente Klang wird in Arien und Duetten durch melancholisch angehauchte Lyrik ersetzt. Céline Akcag singt mit klangschönem Mezzosopran ihre Carmen-Partie, ohne kämpferisch aufzutrumpfen. Auch ihre mit schöner Elevation entfaltete Habanera und die Seguidilla bleiben poetisch zart. Dunkel und düster fällt ihre Spielkarten-Arie aus. Mit feinen Melodiebögen und munterem Spiel erfreut die Sopranistin Felicitas Frische (als Micaela) nicht nur im Briefübergabe-Duett (mit Don José). Bariton Vladislav Pavliuk lässt es als Escamillo bewusst an der Tollkühnheit eines siegreichen Torero fehlen. Schließlich hat er sich zum smarten Boliden-Lenker gemausert, der mit den Händen in den Hosentaschen lässig an der Bühnenrampe entlang schlendert. Am ehesten geht die Lyrik bei Don José-Darsteller Johannes Grau in echte Dramatik über. Die Blumenarie des Tenors ist ein Glanzstück des Abends.

Da wären noch die Sprechrollen der Baden-Badener Schauspieler Patrick Schadenberg (Zuniga) und Rosalinde Renn zu erwähnen. Letztere gibt Nietzsche-Zitate und Aufmüpfiges über „Akte des Gehorsams der Frauen“ von sich. Erfrischend licht und lebendig musizierte ein exzellentes Nachwuchs-Ensemble, die Orchester-Akademie der Berliner Philharmoniker. Am Dirigentenpult sorgte Simon Rössler für musikalische Transparenz und sichere Fundamente, auch für punktgenaue Einsätze im Graben und auf der Bühne. Nicht zu vergessen ist, dass es sich bei den Mitwirkenden, insbesondere beim Vokalisten-Quartett, um Stipendiaten der (von der „Deutschen Bank Stiftung“ organisierten) „Akademie Musiktheater heute“ handelt, also um junge Talente, die am Beginn ihrer Karriere stehen.