Foto: Die Atome kreisen, das Ensemble sitzt. Szenenfoto aus der Deutschsprachigen Erstaufführung von "Moskitos" in Kassel © N. Klinger
Text:Juliane Sattler-Iffert, am 3. September 2018
Menschliches Zusammenleben und neueste Atomforschung bringt Lucy Kirkwoods neues Stück auf der Bühne des Staatstheaters Kassel zusammen.
„Nein, die Liebe ist nicht die stärkste Kraft im Universum, sie ist nur etwas, das wir erfunden haben, um uns zu helfen, das Chaos zu überwinden. Karen, die Wissenschaftlerin und Mutter, sagt das nachdenklich, doch aus solch klugem Wissen ergibt sich keine Konsequenz in dieser Familie, die sich so chaotisch ineinander verhakt. Die englische Bühnenautorin Lucy Kirkwood hat sie geschaffen und – das ist vielleicht das Besondere und Magische daran – sie mit der Teilchenphysik, der Suche nach der ganz großen Lösung im Weltall verbunden. Die Bühne des Kasseler Schauspielhauses, wo die Deutsche Erstaufführung ihres Stückes „Moskitos“ Premiere hat, weitet sich zum tragikomischen Kampfplatz, in dem erstaunliche Dinge passieren, wenn ein Higgs-Boson, jenes Elementarteilchen, das anderen seine Masse verleiht, in Gestalt von Bernd Hölscher erscheint und uns die fünf Varianten des Weltuntergangs erklärt. Wow.
Lucy Kirkwoods Themen sind die großen Fragen nach Glauben und Zweifel, Verantwortlichkeit und Herausforderung der Wissenschaft letztlich auch dem Phänomen der Angst und ihren Auswirkungen. Auf der Bühne, von Mayke Hegger sehr klar mit einem Bühnenrondell und sich verschiebenden Lamellentüren gestaltet, wirbeln in einem kreativen Mix Eltern und Kinder, Paare und Freunde durcheinander: Da ist die Physikerin Alice, die mit ihrem verhaltensauffälligen und superklugen Sohn Luke zusammen lebt, Mutter und Sohn in ewigen Nicht-Verstehen gefangen; da ist Jenny, Alices Schwester, die die pflegebedürftige Mutter betreut und mit der Trauer über den Tod ihres Kindes auf ihre Art umgeht: Fluchend, rauchend, trinkend – kurzum hilflos. Doch Jenny ist es auch, die mit ihrer schroffen Annäherung eine Verbindung zu Luke findet, der plötzlich verschwindet.
Vor dem Hintergrund der Kernforschung – Alice arbeitet am CERN-Institut in Genf an einem Meilenstein-Forschungsprojekt – entwickelt Hausherr Thomas Bockelmann die Geschichte einer Geschwisterrivalität und -liebe, die in diesem intelligenten Stück für so vieles stehen kann. Für Erfolg und Misserfolg, für Rationalismus und Emotion, für Überlegenheit und einfache Menschlichkeit. Wenn Jenny mit dem süßen Unterton der Nachlässigkeit zu der immer so aufrechten Alice sagt: „Ich bin Forrest Gump und du der Scheiß-Zauberer von Oz“ ist das mehr als eine gelungene Pointe, es zeigt zutiefst witzig und zutiefst berührend Familien-Bande, die wie in einem Large Hadron Collider zusammenkrachen: bei dem Aufprall von Teilchen werden Kräfte erforscht, die nur die Wucht zweier Moskitos haben, aber bei der Entstehung des Universums von fundamentaler Bedeutung sein können.
Bockelmann inszeniert das vielschichtige und gedankenlastige Stück mit überraschenden Bildfindungen und einer sensiblen Erkundung des Ungleichgewichts zwischen den beiden Schwestern. Ja, sie stehen im Mittelpunkt des Stücks und: Ja, sie machen es einfach toll: Christina Weiser strahlt als Alice eine mühelose Überlegenheit aus, und doch meint man, tief in ihr drin einen kleinen, traurigen Schatten zu erkennen, Rahel Weiss spielt als Jenny hinreißend diese emotional-naive und leichtgläubige, junge Frau, die unter ihrem So-Sein leidet und doch mit vehementen Trotz widersteht. Herz besiegt Hirn. Da erobern sich der unsicher-coole Luke von Tim Czerwonatis zusammen mit Natalie, einer süße Mischung aus Pokemon und Lolita (Alexandra Lukas), die Herzen der Zuschauer. Karin Nennemann gibt der in die Demenz abrutschenden Mutter beklemmende Tiefe. Der Hausfreund Henri von Stephan Schäfer (pragmatisch-glatt) und Bernd Hölscher als The Boson in CERN-Uniform (Kostüme: Claudia Gonzalez Espindola) runden das brillant aufgelegte Ensemble ab.
Die sich ständig verändernde Landschaft, in der die Bühne als großer Computer mit Videoeinspielungen von Jan Peters eingesetzt wird und die Erfolgsfeier der Wissenschaftler zum wahnwitzigen Medienspektakel mit dem Cantamus Kinderchor aufgeputscht wird (ein Höhepunkt!), macht aus dem Drei-Stunden-Stück ein positiv überforderndes Theatererlebnis: Weil wir etwas über diese Welt erfahren – die große und die kleine und ihre Kollisionen. Stürmischer Applaus gabs zur Premiere, und immerhin gleich die Neuheit dazu. Dass die Physiker in Genf gerade den Zerfall eines Higgs-Boson in zwei sogenannte Bottom-Quarks nachweisen konnten. Aktueller kann Kassel nicht sein.