Foto: Benedikt Voellmy, Emilia Haag © Carl Brunn
Text:Bettina Weber, am 20. November 2022
Videos von Gewalttaten, Kriegsverbrechen, Demonstrationen, von tödlicher Polizeigewalt sind in unserer medialen Welt inzwischen omnipräsent, fast jeder erinnert Bilder dieser Art. Doch wie formen sie unser kulturelles Gedächtnis, unsere individuelle Erinnerung? Es sind gesellschaftlich relevante Fragen, die die 1994 geborene Autorin Amanda Lasker-Berlin mit „Ich, Wunderwerk und How much I love disturbing content“ stellt. Das Stück, entstanden 2021, wurde im gleichen Jahr mit einem der drei Autor:innentheater-Preise ausgezeichnet und an den Vereinigten Bühnen Graz uraufgeführt. Marlene Anna Schäfer, erfahren im Umgang mit neuer Dramatik, hat es nun am Theater Aachen als Kammerspiel inszeniert – handwerklich fehlerfrei, ästhetisch aber bisweilen etwas gleichförmig.
Kollektiv versus Individuum
Das Thema des Stücks bietet durchaus dramatisches Potenzial: Was macht uns zu Zeug:innen, was zu Mittäter:innen, was zu Opfern oder Helfer:innen, wenn wir auf dem Bildschirm George Floyd beim Sterben zusehen oder im Fernsehen Journalisten beobachten, wie diese die Entführer von Gladbeck interviewen? Diese beiden kollektiv präsenten Ereignisse verbindet das Stück, was klug und naheliegend erscheint, weil sich beide realen Dramen quasi vor laufenden Kameras abspielten und in das Gedächtnis zahlreicher Menschen weltweit eingebrannt haben. Die Spieler:innen Tina Schorcht, Elke Borkenstein, Emilia Haag und Benedikt Voellmy sprechen immer wieder im Chor, wenn Sequenzen aus jenen Videos im Text geschildert werden. Triggerwarnungen werden verlesen („Die folgenden Inhalte könnten verstörend wirken“), immer wieder beginnen die Sätze mit „Wir sehen …“. Und wie das Ensemble da in diesen Szenen am Bühnenrand steht, hinter einer riesigen Gaze, von hinten beleuchtet und schattiert (Licht: Eduard Joebges), um sie herum Bühnennebel – das hat natürlich Symbolkraft, weil es jene Anonymität transportiert, die zum Problem werden kann, wenn es um kollektive Zeug:innenschaft geht. Eine Anonymität, die hemmt, die das Verantwortungsgefühl reduzieren und dazu verleiten kann, sich in der Menge zu verstecken.
Über insgesamt vier verschiedene Erzählstränge hinweg differenziert die Autorin sprachlich geschickt die verschiedenen Wahrnehmungsebenen heraus, die beim Anschauen, aber auch Drehen solcher Videos entstehen. Welche Macht hat der oder die Filmende eigentlich, den Fokus der Zusehenden zu lenken oder auch einzugreifen? Kontrastiert werden diese Schilderungen der öffentlich dokumentierten Geschehnisse mit zwei privaten Sequenzen: Einem Video von der privaten Weihnachtsjahr 1996, das sich eine inzwischen erwachsene Frau mit ihren Eltern anschaut und das eine grauenvolle, längst vergessene Tat zutage fördert, sowie mit einem inneren Film über Gladbeck-Rentfort, den Ausgangsort der Geiselnahme und zugleich Kindheitsort der Erzählerin.
Erinnerung und Identität
In Marlene Anna Schäfers Inszenierung werden diese Erzählstränge eng miteinander verwoben, was gleichermaßen logisch wie herausfordernd ist. Angesiedelt ist das Bühnengeschehen in einem 90er-Jahre-Wohnzimmer: Ledercouch, Zigaretten-Qualm, ein Plastik-Weihnachtsbaum und in der Ecke ein Spielzeugauto, das als Gladbeck-Miniatur fungiert (Bühne und Kostüme: Christin Treunert). Hier werden Sequenzen der verschiedenen Video-Erinnerungen entweder gespielt oder nachgesprochen. Manchmal wird auch gefilmt (natürlich mit einem Handy) und auf die Gaze projiziert: Wenn das Erzählerinnen-Ich einen gedanklichen Spaziergang unternimmt durch das Gladbecker Einkaufszentrum oder ein Interview mit einem der Entführer des Geiseldramas nachgestellt wird. Die monologisch geprägten Erzählebenen stark ineinander übergehen zu lassen, erscheint einerseits schlüssig. Andererseits wird es so schwerer, dem Wechsel der Perspektiven durchgehend zu folgen, obwohl die Schauspieler:innen sich offenkundig sattsam und konzentriert in ihre (wechselnden) Rollen eingefunden haben. Mario Frauenrath und Sjef Hendriks haben auch Gastauftritte, einer als Großvater der Familie, einer als Stimme aus dem Off. Doch welcher Figur gehört die Stimme aus Off, die zwischendurch spricht? Eine Zuordnung ist allenfalls ahnbar. Fragezeichen bilden sich über dem Nebel der Bühne. So richtig mag der Funke nicht überspringen, trotz der starken Thematik und des darstellerischen Engagements. Der Ablauf und Rhythmus des Erzählens, des Nachspielens und Filmens wiederholt sich szenisch bis hin zum Erwartbaren. Wird hier noch lustvoll gespielt – oder eher abgespult? Erst, als endlich die Handlung ihren Spannungshöhepunkt erreicht, kommt auf der Bühne wieder sichtbar Bewegung (und Regung) ins Spiel. Als klar wird, was an Weihnachten 1996 geschah – und vor allem, dass die Familie nicht nur weg-, sondern aktiv zusah und filmte –, als klar wird, welchen Schmerz ein Video konservieren und auslösen kann, da bricht sich ein Sturm der Gefühle in einem Monolog der Forderungen Bahn: keine Videos von Verstorbenen dürfe es mehr geben, keine Videoaufnahmen, kein Weihnachten! Tina Schorcht schreit und schreit diese Worte, immer lauer, zerlegt das Wohnzimmer und fordert zuguterletzt: absolute Teilnahmslosigkeit. Es ist noch mal ein sehr starker Moment zum Abschluss des Abends, der wichtige Fragen unserer Zeit stellt, aber womöglich noch größere Wirkungskraft hätte entfesseln können.