Foto: Idealbesetzung: Marie-Nicole Lemieux (Cassandre) und Stéphane Degout (Chorébe) © Wilfried Hösl
Text:Andreas Falentin, am 9. Mai 2022
Nein, leicht zu inszenieren sind Berlioz‘ „Troyens“ wirklich nicht. Wie bewegt man die Chormassen? Wie überführt man die Statik, die durch die Dramaturgie der in Reihe gestalteten Teableaus vorgegeben wird, in theatrale Vorgänge? Und wie findet man Entsprechungen für die großen, von der Theatermaschinerie des 19. Jahrhunderts aus gedachten, spektakulären Bilder – das trojanische Pferd, den Kollektivselbstmord der Trojanerinnen oder die mythologisch aufgeladene Sturmpantomime?
Großartiges Ensemble
Zunächst einmal wird an der Bayerischen Staatsoper großartig musiziert. Daniele Rustioni strukturiert mit dem Bayerischen Staatsorchester Berlioz‘ so einzigartige wie eigenwillige Klangzaubereien und kostet sie voll aus. Im Laufe des Abends geht nur ein wenig die Transparenz verloren, hört sich das Blech zunehmend gepanzert an, gehen die dynamischen Regler immer häufiger nach oben – bei gleichzeitig sehr maßvollen Tempi. Der Chor singt klangschön, auch wenn sein Französisch nicht immer zu verstehen ist. Dazu hat die Staatsoper ein fantastisches Ensemble zusammengestellt, das sich den immensen gesanglichen Herausforderungen mehr als gewachsen zeigt. Wie Marie-Nicole Lemieux (Cassandre) und Stéphane Degout (Chorébe) ihre Stimmen führen, sie stets im Fluss halten, Farben subtil abschattieren, die Stimme mühelos lyrisch zurücknehmen oder dramatisch explodieren lassen, muss man gehört haben. Das entspannte und doch durchschlagskräftige Singen des 68-jährigen Gregory Kunde als Enée fasziniert auf selbem Niveau, zumal er die große Arie im letzten Akt hinreißend bewältgt, mit voll intakter großer Tenor-Höhe und kämpferisch auf Linie gehaltener Mittellage. Ekaterina Semenchuk beginnt als Didon mit etwas zu viel Vibrato, beeindruckt aber mit großer Piano-Kultur, der das offene Bühnenbild nicht freundlich gegenübersteht. Alle Figuren sind rollendeckend besetzt. Einigen gelingen mit Mitteln des musikalischen Ausdrucks und der persönlichen Ausstrahlung wunderbare Charakterminiaturen. Hier sind in erster Linie Jonas Hacker (Hylas) und Eve-Maud Hubeaux als überraschend androgyner Ascagne zu nennen.
Sie alle bekommen wenig Unterstützung von ihrem Regisseur Christophe Honoré. Personenführung findet kaum statt. Man steht, bewegt die Arme, sieht sich an oder ins Publikum. Und irgendeine Choristin oder ein Statist läuft häufig wie von ungefähr dazu über die Bühne oder betrachtet die Szene versonnen. Die eingangs beschriebenen Probleme umgeht Honoré teilweise – der Chor bestreitet weite Strecken in Konzertkleidung und steht auch so, ein Schriftzug „Das Pferd“, der nicht produktiv wird für das Spiel, erscheint auf halber Bühnenhöhe – oder er ertränkt sie in kleinem Realismus. Die Trojanerinnen müssen in ihren weiten Gewändern nach Giftfläschchen wühlen, die man schon in Reihe 10 nur schwer erkennen kann. Woher haben sie die übrigens? Cassandre hat ihnen doch gerade erst 15 Minuten lang die Möglichkeit eines Suizids vor Augen geführt?
Katholizismus versus freie Liebe?
Natürlich gibt es durchaus Grundzüge einer Interpretation. Beide Städte, Troja und Karthago, hat Katrin Lea Tag aus Beton erbaut, wobei Karthago architektonisch definierter gerät, fast wie ein ästhetischer Nachfolger Trojas. Die oft rätselhaften Kostüme von Olivier Bériot scheinen Troja katholisch zu verorten (Roben und angedeutete Kardinalshüte), in Karthago scheint alle Religion überwunden. Wenn der Vorhang aufgeht, gibt man sich bunt und nackt im Sichtbeton. Es scheint die freie Liebe zu herrschen, wenn auch eher im Bild als im Spiel. Anstelle der Pantomime gibt es eine gefilmte Party zu sehen inklusive der Darstellung sexueller Handlungen mehrerer junger Männer miteinander. Diese Filme sind die Ursache dafür, dass die Bayerische Staatsoper die Produktion ausschließlich für über 18-Jährige empfiehlt. Dabei hat der Umgang der jungen Männer mit sich und ihren primären Geschlechtsorganen so gar nichts Anstößiges oder Gewaltsames. Die Frage ist nur, wie er sich in den dramaturgischen Kontext von Fabel und Musik fügt. Hier bleibt der Rezensent ratlos. Denn jene propagierte freie Liebe wird doch kaum ausschließlich gleichgeschlechtlich sein? Zudem sind die Bildreize wie die Leinwände recht klein. Und man ärgert sich darüber, wie linkisch sie umgestellt und abtransportiert werden. Die kleinen handwerklichen Dinge scheinen generell nicht gearbeitet in der Inszenierung. Will oder muss eine Darstellerin, ein Darsteller etwa sitzen, muss er oder sie sich dafür einen Stuhl aus der Kulisse holen.
Hector Berlioz‘ Opus Magnum „Les Troyens” ist ein Stück über zwei Frauen, die zugrunde gehen, weil ihnen ihre männlich dominierte Umgebung nicht gewachsen ist. Und es ist ein Stück über Krieg und Flucht. Eine Haltung hierzu, ob nun grundsätzlich oder aktuell, sucht man vergeblich. Auch diese Herausforderung hat Christophe Honoré nicht angenommen.