Foto: Randall Jakobsh (Hunding), Ekaterina Godovanets (Sieglinde) und Vincent Wolfsteiner (Siegmund) © Ludwig Olah
Text:Dieter Stoll, am 7. April 2014
Die finale Truppenbetreuung am Walkürenfelsen bietet vergitterte Zellen im Schwebezustand, der Heldentod findet in Käfighaltung statt. Wenn Wotans grimme Töchter, die mit ihren Baseballschlägern hier wie ein rechtsradikales Missverständnis von Pussy Riot aussehen, die Krieger für den Weg ins paradiesische Abseits beleben, sieht man überraschend den letzten Marsch von Kinder-Soldaten. Es ist eine Szene vom dritten Aufzug, aber die besonders typische für den zweiten Teil von Georg Schmiedleitners Nürnberger „Ring“-Inszenierung. Denn der Regisseur, der im „Rheingold“ die Entstehung der Götterburg Walhall auf dem morschen Fundament von neuzeitlichem Plastikmüll zeigte, bevorzugt in „Die Walküre“ eher noch deutlicher den Einsatz von kurzzeitig erhellenden Signalraketen für Hinweise auf Gegenwart. Hier wie oft an diesem Abend wird der Blick für den Moment gebannt – und dann wieder losgelassen bis zum nächsten, fernen Gedankensprung. Was Dirigent und Regisseur verbindet, ist die Liebe zur Großaufnahme und die Blockierung von nebulöser Gefühligkeit. Sie klopfen das Werk auf Hohlraum-Pathos ab, wissen aber nicht immer, was sie mit den gefundenen Leerstellen anfangen sollen.
Aber schön der Reihe nach. Während Flüchtling Siegmund (hier so auf Naivität festgelegt, dass die Siegfried-Vaterschaft unbestreitbar wird) noch per Live-Übertragung unterwegs ist zu Hundings Hütte, hat sich dort bereits BigBrother alias der virtuelle Wotan an der Projektionswand eingenistet. Erst sein forschendes Gesicht im Großformat, dann allein das sehende Auge – da kann kein Whistleblower Snowdon helfen. Hausfrau Sieglinde labt den erschöpften Besucher, Bruder und künftigen Liebhaber erst aus dem Quell der Einweg-Flasche und bessert schnell mit Dosenbier nach. Dann bricht Gewaltmensch Hunding (Randall Jakobsh, sehr bemüht) mit Geweih und viel Tätowierung aus dem Unterholz, das allerdings aus einem Autoreifen-Friedhof besteht. Er könnte direkt als Kronzeuge zum NSU-Prozess durchgereicht werden, muss hier aber erst mal pflichtgemäß gastfreundschaftlich zum Herd (= eine Kochplatte) einladen und das Blut vom Oberkörper abwaschen. Sobald er eingeschläfert ist, leuchtet der Wonnemond. Das Paar steht im Gegenlicht, zumindest die Musik verkündet Erotik.
Danach besuchen wir Wotan im Gefechtsstand. Der Oberbefehlshaber wird von den Krisen-Monitoren abgelenkt, weil die durchgestylt zickige Fricka (auch stimmlich prägnant: Roswitha Christina Müller) von der Shopping-Tour kommt. Erst kleidet sie den verschlampten Gemahl aus der Louis-Vuitton-Tüte standesgemäß ein, dann klärt sie die familiären Machtverhältnisse. Dass sie als „der Ehe Hüterin“ die Wälsungen-Liebe nicht tolerieren kann, gibt den Anstoß für den nächsten Trauerfall. Brünnhilde möchte ihn verhindern. Wir lernen sie als Papas Mädchen mit Steckenpferd kennen, kindlich kuschelnd und heimlich am göttlichen Whiskey nuckelnd. Zur Todesverkündigung ist sie rasant gealtert und stark verunsichert, zumal der Adressat die Nachricht vom Sofa aus gelassen annimmt. Den unvermeidlichen Kampf Siegmund/Hunding unter Manipulatoren-Schirmherrschaft von Brünnhilde/Wotan gibt es als finsteren Karaoke-Tumult auf der Hinterbühne. Am Ende bleibt Wotans Abschied von der ungehorsamen Wunschmaid samt Feuerzauber und dem wirklich bewegenden Höhepunkt: Antonio Yang, im „Rheingold“ der fabelhafte Alberich und hier zunächst ein noch tastender, für spätere Aufführungen viel versprechender Wotan, gestaltet das Finale hinreißend als brüchigen inneren Monolog – wunderbar diskret inszeniert und musikalisch geleitet.
Rachael Tovey hat als Brünnhilde scheinbar mühelos alle Facetten der Hochdramatik, Vincent Wolfsteiner trägt der lange Atem der „Wälse“-Rufe imponierend durch die ganze Partie. Die prächtige Verdi-Sängerin Ekaterina Godovanets bleibt der Sieglinde freilich in jeder Hinsicht viel Emphase schuldig. Regisseur Schmiedleitner, am Tag der Generalprobe durch die Meldung seiner Übernahme von Karl Kraus‘ „Die letzten Tage der Menschheit“ bei den Salzburger Festspielen zusätzlich interessant geworden, verpackt böse guckende Walküren in Alfred Mayerhofers Metaphern-Kostümen wie er auch sonst überwiegend auf Außenwirkung ohne erkennbares Innenleben setzt. Stefan Brandtmayrs Bühne mit Animation dient diesem Konzept der draufgesattelten Belebung. Jede Menge Anmerkungen, aber kaum Spuren der großen faszinierenden Idee des Vorabends.
GMD Marcus Bosch beruft sich in seinem klugen Programmheft-Essay aufs Protokoll der ersten Bayreuther Festspiele 1876 und erklärt den Gesang zum „aktiven Reden mit Musik“, das ganze Stück zum „dramatischen Dialog“ gegen alle verführerischen Einladungen zur Pauschal-Emotion. Ganz so souverän wie im „Rheingold“ gelingt ihm das Umsetzen nicht, denn beim ständigen Wechsel von fließendem Konversationston und oft sogar manieristischer Entkernung wird das Ziel der Spannung auf Kosten von Anspannung erkauft. Die Musiker der Staatsphilharmonie Nürnberg, die zum großen Teil schon mit Philippe Auguin und Christof Prick an einem deutlich mehr auf Klangmagie setzenden „Ring“ arbeiteten, folgen dem Wechselspiel zwischen domestizierter Intimität und explodierender Brachialgewalt hingebungsvoll. Boschs Lust auf die Entdeckung und Freilegung schnörkelnder Verzierungen, die sich wie Girlanden um die Gesangslinien schlingen, ist das Bonusmaterial der Produktion.
Ob es bei diesem Nürnberger „Ring des Nibelungen“ wirklich ums Ganze geht, um den Rohstoff, aus dem die Träume der Macht sind, wird in der „Walküre“ nicht beantwortet. Das Ende ist gut, da wollte das freundliche Publikum gerne fast alles gut finden. Es gab im vergleichsweise kurzen Beifall mehrere Jubelstürme für die Sänger, große Zustimmung für den Dirigenten und eine ehrenwerte Balance aus Bravo und Buh fürs Schmiedleitner-Team. Die Schlacht um Wagners Welten ist offen.