Foto: "Siegfried" am Staatstheater Nürnberg. Vincnet Wolfsteiner (Siegfried) und Peter Galliard (Mime) © Ludwig Olah
Text:Dieter Stoll, am 20. April 2015
So unfeierlich hatte sich Brünnhilde ihr Erwachen ganz sicher nicht vorgestellt („Heil dir Sonne“ mit eingebautem Migräneanfall) und so verwackelt dürfte der fragwürdige Glückszustand des naiven Erweckers Siegfried noch nie gezeigt worden sein. In Georg Schmiedleitners „Siegfried“-Inszenierung wird der frisch gekürte Drachentöter-King nämlich keineswegs aus den Flegeljahren ins Heldentum befördert, sondern wandelt sich blitzartig vom furchtsamen Flirt-Debütanten zum pragmatischen Haushaltsvorstand. Die verstoßene Göttertochter muss sich sozusagen im Angesicht der Bettkante an irdische Genüsse wie Ledercouch und Flachbild-TV gewöhnen, die der Schwert-Recke zur Lebensabschnitts-Einrichtung direkt aus der Kulisse holt. Aber das schafft sie, mit den Hosenträgern des Lovers schnalzend, leichter als ein Teil des verblüfften Premierenpublikums – es rüstet an dieser Stelle sichtlich zum Buh, während die emeritierte Walküre nach abschließenden Stolz-Hymnen fern aller Hojotoho-History in Spießers gemütlichem Eckerl ihren ersten Kartoffelchip begutachtet. Heil dir Sofa!
Nein, der dritte Teil vom Nürnberger „Ring des Nibelungen“ ist nicht durchgängig so punktgenau eigenartig inszeniert, auch wenn der österreichische Regisseur mit der zwischenzeitlichen Satire-Erfahrung an den anderen „Letzten Tagen der Menschheit“ (Karl Kraus, Salzburger Festspiele) schon in den Szenen vorher mehrfach signalisierte, dass er diesmal härter zupackt. Hatte er sich 2013 bei „Rheingold“ allzu sehr auf die Müll-Metapher verlassen und 2014 bei der „Walküre“ etwas planlos in den konventionellen Möglichkeiten herumgestochert, drängt er nun gewaltig auf die Entmystifizierungstherapie einer giftig rempelnden Komödie. Feinfühlige Musikinterpretion ist dabei nicht sein erstes Anliegen, wenn etwa zum Auftakt das Orchester noch dräuend von weltbewegendem Unheil kündet und Mime davon unbeeindruckt in seiner Schmuddelküche mit Stockbett schon Trash-Kochshow veranstaltet. Der mürrische Ziehsohn Siegfried stößt an der Spitze einer tätowierten Bären-Jugendgang dazu und Wanderer Wotan schaut am Griff seiner rollenden Einkaufstasche zum Stuben-Quiz vorbei. Viel Macht ist ihm nicht geblieben, aber für die Frage-Show mit Kopf-Prämie (Mime entdeckt gruselnd das verpfändete eigene Haupt im Kühlschrank) reichen die Hokuspokus-Restbestände grade noch. Wenn dann das Wunderschwert Nothung geschmiedet ist, obwohl es der junge Handwerker offenbar mit einem Wedelhering verwechselt, führt der Weg zu Fafners Höhle keineswegs ins Grüne. Der Drache hat es sich mit seinem Schatz in Brachland gemütlich gemacht, wo Reste von stillgelegtem Industriebergbau dahinrosten. Das Waldvöglein hält sich in diesem verlorenen Paradies mit sieben Luftballons und zwei Krücken aufrecht. Später finden wir mit Wotan den Ruhesitz von Urmutter Erda ausgerechnet unter einem nachtaktiven Pissoir, ehe es zum Blütenregen bei wehenden Gardinen am Walküren-Zwischenlager geht. Brünnhilde erwacht dort zwinkernd missgelaunt und wischt erst mal unwillig die Blumenreste weg.
Schmiedleitner setzt eine schmutzende Welt gegen den Phantom-Glanz, entwindet dem Scheitern jegliche Verklärung. Er rüttelt an den Fundamenten des Stückes, aber er zerstört es nicht. Zwar sind seine Provokationen zu oft platt (Alberich pinkelt auf Wotan) und die blutigen Splatter-Zugaben (es spritzt gewaltig bei Mord und Totschlag) gehören eher zur Komik, zwar fällt ihm und Bühnenbildner Stefan Brandtmayr zum Drachen nicht mehr ein als ein sanftes Erdbeben mit Beleuchtung, doch die glänzende Personenregie bringt für Wagners abendfüllende Dialog-Staffel zunehmend faszinierende Begegnungen. Die Sänger profitieren alle davon.
Heldentenor Vincent Wolfsteiner – nach drei Nürnberger Jahren als Otello, Tristan, Kalaf und Siegmund in Bestform – besteht sein Rollendebüt in jeder Hinsicht grandios. Er singt die mörderische Partie stabil bis zum letzten Ton und lässt sich vom Regisseur zu einer absolut unheldischen Charakterstudie aus böse funkelnden Facetten verführen. Peter Galliard ist der bibbernde Mime, der auch stimmlich durchaus Ziehvater sein könnte, der junge Antonio Yang bestätigt als Wanderer mit „Ich bin dann mal weg“-Kluft alle Hymnen, die nach den ersten beiden „Ring“-Teilen über ihn geschrieben wurden. Die Brünnhilde von Wucht-Sopranistin Rachael Tovey, der man ja vor nicht allzu langer Zeit kaum Schauspieler-Talent hinter der grandiosen Röhre zutraute, steckt voller unerwartetem Witz. Mit Martin Winkler (Alberich) ergibt das ein Nürnberger „Siegfried“-Ensemble allererster Güteklasse.
Generalmusikdirektor Marcus Bosch betont die Vielfalt des Konversationsstückes, forscht mit dem Philharmonischen Orchester auf der Spur kleinteiliger Reflexe, scheint sich manchmal auch darin zu verlieren und katapultiert dann doch im entscheidenden Moment den Klang aus der Analyse zum Gipfelpunkt. Eine versonnene, der drastischen Regie nur bedingt folgende Interpretation, immer den Sängern zugewandt. Man hört gebannt hin. Es gab Jubel für die Solisten, Beifall für den Dirigenten und lautstark gemischte Gefühle beim Erscheinen des Regie-Teams. Aber Zweifel daran, dass es nach dieser finalen Spottgeburt der Spießer-Paarung in der „Götterdämmerung“ spannend werden muss, kann es eigentlich nicht gegeben haben.