Foto: Scheiternder Regisseur des eigenen Schicksals: Thomas Berau (Cardillac) mit Milen Bozhkov (Offizier, hinten) und Anna Knipps (Statisterie) © Klaus Lefebvre
Text:Regine Müller, am 22. September 2019
Eigentlich müsste Paul Hindemiths „Cardillac“ die Opern-Wiederentdeckung dieses Bauhaus-Jubiläumsjahrs sein. Denn die Uraufführung der Oper fiel 1926 in die Blütezeit des Bauhauses, bereits zuvor hatte Hindemith wiederholt mit Bauhaus-Vertretern wie etwa Oskar Schlemmer zusammengearbeitet und nicht zufällig wurden seine „Marienlieder“ im Rahmen der Bauhauswoche in Weimar zur Eröffnung der von Walter Gropius verantworteten Ausstellung im Nationaltheater aufgeführt.
Tatsächlich ist „Cardillac“ ein irritierendes Werk, spröde, knapp, oszillierend zwischen neusachlicher Formensprache – auch als Bauhaus-Barock bezeichnet mit Anleihen an Fugen- und Passacaglia-Formen – rotzigen Jazzanklängen und spätromantischen Ausbrüchen, die sich an Ferdinand Lions pathos-sattem, gefährlich raunendem Libretto durchaus produktiv reiben. Ein Werk, das exemplarisch einen anderen Blick erlaubt in jene widersprüchliche Zeit, in der Mechanisierung, Versachlichung und ästhetische Abrüstung eben durch Bewegungen wie das Bauhaus parallel wirkten mit zugleich erstarkenden dunklen Strömungen des Fanatismus.
Diesen Widerspruch nahm Hindemith intuitiv auf, indem er ein genuin romantisches Sujet – nämlich E.T.A. Hoffmans Novelle „Das Fräulein von Scuderi“ von 1819 mit den Mitteln der Neuen Sachlichkeit kurzschloss. Und eine unerhört kompakte, heiß-kalt schillernde Oper schrieb, deren Radikalität ihn nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs offenbar selbst so sehr erschreckte, dass er sie völlig überarbeitete und mit einem neuen Libretto versah.
In Hagen spielt man nun dankenswerterweise die kompakte erste Version von 1926 und mit Jochen Biganzoli ist ein Regisseur am Werk, der das sperrige Werk auf bezwingende Weise einer weiteren Abstraktion unterzieht und ihm damit eine alarmierende Brisanz verleiht. Biganzoli, dessen packender Hagener „Tristan“ noch in bester Erinnerung ist, setzt auch hier auf Purismus und Ausnüchterung. Die Geschichte des Goldschmieds Cardillac, der seine als Kunstwerke verstandenen Schmuckstücke zwanghaft zurückholen muss und dabei immer wieder zum Mörder wird, erzählt Biganzoli ohne einen Bezug zum 18. Jahrhundert der Stoffvorlage oder Spuren des Expressionismus der Stummfilmzeit – die sich als Entstehungszeit auch für eine Referenz anbieten würde. Ein kahler, zeitlos abstrakter Raum (Bühne: Wolf Gutjahr) ist der Spielort, an die Prospekte werden programmatische Kunstmanifeste der Bauhaus-Zeit, des italienischen Futurismus bis hin zu staatstragender Steinmeier-Rede projiziert. Widersprüchliche Thesen sind da mitunter zu lesen, Radikales wie „Wer Kultur schaffen will, muss Kultur zerstören“ (Künstlergruppe Spur Manifest) oder Beharrendes wie „Art must be beautiful“ (Marina Abramovic). Cardillac ist im schwarzen Overall stets auf der Bühne präsent, hantiert mit Mikro und Notizblock, arrangiert die Szene, dirigiert den Chor und wirkt überhaupt als Regisseur seines eigenen, auf rigorose Subjektivität pochenden (Künstler-)Schicksals. Das ist auch gedeckt durch das Libretto, das außer Cardillac nur namenlose Figuren aufführt, die bloße Typen bleiben.
Statt gleißender Juwelen sind die Objekte der allgemeinen Begierde bei Biganzoli Shopping-Tüten mit aufgedruckten Luxus-Labels, ‚eine Dame‘ erscheint im goldenen Jumpsuit, assistiert von einem kindlichen und greisen Alter-Ego, der ‚Kavalier‘ trägt einen silbernen Raumanzug, die ‚Tochter‘ ein weißes Kinderkleid, der ‚Offizier‘ heutiges Alltags-Outfit und das Schmuckstück, um das Offizier und Cardillac schließlich ringen, ist eine weiß geschminkte Statistin, deren Kopf in einer weißen Pappmaché-Kugel steckt.
Bestürzend an diesem autosuggestiven Künstler-Diskurs, der um die ewigen Fragen kreist, was Kunst soll und darf, wie weit der Künstler gehen kann und wie sehr er als Person zu entschulden ist zugunsten des Werks, ist, wie sehr der überführt Schuldige dennoch messianisch verehrt wird vom schwarz gewandeten Chor, der große Aufgaben zu bewältigen hat. Am Ende knüpft man Cardillac mit ausgestreckten Armen an eine Traverse und da hängt er dann auf halber Bühnenhöhe, halb Gekreuzigter, halb Ikarus.
Joseph Trafton meißelt im Graben die Kanten von Hindemiths Partitur scharf heraus, ermuntert das bestens aufgelegte Orchester aber auch – vor allem in den Zwischenspielen – zu kammermusikalischer Delikatesse, die besonders die Holzbläser lustvoll und detailverliebt auskosten. Trafton trifft auch den lässigen Jazz-Ton bestens, verniedlicht aber nicht die dunkel dräuenden Momente und die mechanische Eiseskälte der Konstruktion. Das famose Sängerensemble dominiert Bariton Thomas Berau in der Titelrolle, der plastisch und textverständlich formuliert und die stimmlichen Herausforderungen wohlklingend sonor meistert. Angela Davis‘ Sopran als Tochter ist durchschlagkräftig, in extremer Höhenlage mitunter etwas hart, Milen Bozhkov bewältigt die haarige Tenorpartie des Offiziers souverän, ebenso Thomas Paul als Kavalier, Veronika Haller als Dame, Ivo Stánchev als Goldhändler und Kenneth Mattice als Führer der Prévôté. Großer Applaus im leider nicht gut besuchten Haus. Dabei ist diese Rarität tatsächlich eine Entdeckung und Hagen tut sich erneut mit einer äußerst durchdachten und fabelhaften Produktion hervor.