Foto: Szene mit Andrei Popov (Teufel) © Monika Rittershaus
Text:Roland H. Dippel, am 6. Dezember 2021
Mehr noch als Tschaikowskis Oper „Die Pantöffelchen der Zarin“, welcher ebenfalls Gogols Erzählung aus dem Jahr 1842 zugrunde liegt, ist Nikolai Rimski-Korsakows „Die Nacht vor Weihnachten“ ein Saison-Poem für Erwachsene. Ebenso wichtig wie das christliche Weihnachtsfest sind in dieser „wahren Geschichte und einem Lied zur Wintersonnenwende“ heidnische Mythen, um die Rimski-Korsakow das von ihm selbst verfasste Textbuch erweiterte. Der Teufel und die Hexe Solocha verlieren ihre Macht. Zum Schluss nimmt die stolze, spröde Oksana den sie zum Herzerweichen anschmachtenden Schmied Wakula also doch, nachdem er sie mit den von ihr geforderten Statussymbolen beglückt hat.
Weder in Russland, wo Rimski-Korsakow mit der Zensur vor der Uraufführung 1895 wegen der in seiner Oper auftretenden namenlosen Zarin Scherereien hatte, noch nach der deutschen Erstaufführung 1940 kurz vor dem Überfall Hitlers auf die Sowjetunion konnte sich die Oper durchsetzen. Die Premiere in Frankfurt, kurzfristig von voller Platzkapazität auf Schachbrettmuster umgestellt, geriet zu einem riesigen und heftig bejubelten Erfolg. Das Publikum zeigte sich begeistert von dem Werk und seiner fulminanten Realisierung. Besetzung, Inszenierung und musikalische Leistung rückten Rimski-Korsakows Oper ins bestmögliche Bühnenlicht.
Der Mond und sein Einfluss auf die Menschen
Einmal mehr gelingt es Christof Loy und seinem Bühnenbildner Johannes Leiacker, eine Handlung und deren hier ins Übersinnliche reichenden Metaebenen in klare, poetische und vitale Bilder zu setzen. In dem ukrainischen Dorf Dikanka sind die hierarchischen Ebenen dank der Kostüme von Ursula Renzenbrink glasklar erkennbar. Langsam entwirrt sich zu Beginn die Figurengruppe in der bühnengroßen Box. Blitzblank ist alles, vor allem die wenigen und mit klarem Sinn gesetzten bemalten Möbel und weihnachtlichen Accessoires. Und es glitzern die Sterne an den weißen Wänden. Ein riesiger Meteorit ragt herein – das Regieteam spricht vom Mond. Das abschreckend große Gestirn zeigt neben der Sphärenharmonie auch bedrohlichen Einfluss auf die so schön herausgeputzten und ihre Abhängigkeit von der Natur vergessenden Menschen. Aber alles bleibt märchenhaft. Nichts verschärft sich zur Warnung vor der Ökoapokalypse, selbst wenn Sinnlichkeit und Vereisung nahe beieinander liegen. Diese Bilder fordern dazu heraus, tiefere Schichten hinter der schönen und manchmal etwas glatt wirkenden Musik Rimski-Korsakows zu erlauschen. Die Eintracht Oksanas und Wakulas ist schwer erkämpft. Hier sieht und hört man das.
Sagenhaft geraten die Flugritte Solochas auf dem Hexenbesen und alle Szenen, in denen sich der Teufel mit ihr oder Wakula in die nachtdunklen Lüfte schwingt oder sanft herabgleitet. Der Stuntkoordinator Ran Arthur Braun macht’s möglich und gibt der Inszenierung zusammen mit dem rasch wie vollständig wirkenden Ballettzauber Klevis Elmazaj ein zauberhaftes Gepräge. Für die Himmelsszenen der heidnischen Fruchtbarkeitswesen Owsen und Koljada komponierte Rimski-Korsakow ein großes Divertissement. Also wird Koljada (Ayelet Polne) zur klassischen Ballerina, die erst mit einem Bären (Pascu Ortí) und dann mit ihrem Frühlingsgott (Gorka Culebras) tanzt. Wieder einmal erzielt Loy große Wirkungen mit einfachen Mitteln und bestechend klar entwickelter Zeichenhaftigkeit.
Loy hat das Stück viel zu genau gelesen, um aus der Szene Solochas mit den am Heiligabend nacheinander in ihre Wohnung hereinschneienden Galanen den groben Schwank zu stricken. Obwohl es wenig Anlass zu lautstarkem Gelächter gibt, bleibt der Spaß groß. Loy belässt den Wechsel zwischen Hell und Dunkel, der Rimski-Korsakows inhaltliches und musikalisches Hauptthema ist. Nach der zeitlosen Gegenwart des herausgeputzten Dorflebens ist die Szene am Hof der Zarin Rokoko pur. Neben den Huldigungen der Hofdamen – es dürfte in der russischen Oper kaum schönere Gesangsgirlanden geben – macht der Chor der Oper Frankfurt mit seinem Direktor Tilman Michael aus jedem seiner Auftritte ein Fest.
Kurzweilig und musikalisch reizvoll
Dass diese Inszenierung so deutlich wie kurzweilig ist und alle dramaturgischen Schwierigkeiten des Plots bravourös bewältigt, liegt auch an der Musik Rimski-Korsakows, der seine Figuren mit entwaffnender Ehrlichkeit charakterisierte. Für Oksana griff er die mehrsätzige, um 1890 überlebte italienische Arienform auf und gibt der Figur damit einen wächsern-kühlen Charakter. Das kurze Duett bei der elektrisierenden Kurzbegegnung Wakulas mit der Zarin (verführerisches Charisma in kleiner Partei: Bianca Andrew) glüht weitaus intensiver als die Begegnungen Wakulas mit Oksana. Erst recht die Flirts Solochas mit dem Teufel haben entschieden mehr Peng als das Happy End für den Schmied mit dem sanften Herzen und Bärenkräften. Loy und Leiacker führen die Menschenwesen mit kühler Objektivität durch die im zweiten Teil noch reizvollere Partitur.
Für die Besetzung hat Intendant Bernd Loebe mehrere passgenaue osteuropäische Sänger:innen verpflichtet. Georgy Vasiliev vermittelt in Wakulas wunderschönen Melodien mit süchtig machendem Edelschmelz zwischen bösen und guten Wesen. Enkelejda Shkoza gibt die Solocha als attraktive Vollfrau mit passend vollen Tönen und einem unwiderstehlichen Hüftschwung, der Tschub (Alexey Tikhomirov), dem Diakon Ossip(Peter Marsh) und dem Bürgermeister (Sebastian Geyer) fast um den Verstand bringt. Schuld daran ist keinesfalls der von Solocha ausgeschenkte Schnaps. Andrei Popov ist ein auch sängerisch eleganter Teufel an der schmalen Kante von Bonvivant und Fiesling. Ausgerechnet die weibliche Hauptfigur gerät bemerkenswert kühl in diesem subversiven Weihnachtsmärchen, in dem die menschliche Fruchtbarkeit und Hingabefähigkeit wichtiger sind als die Wunder von Christi Geburt. Julia Muzychenko (Oksana) hohe Soprantöne strahlen souverän und bleiben kalt. Dazu zelebrieren Sebastian Weigle und das Frankfurter Opern- und Museumsorchester Rimski-Korsakows Partitur mit schönheitstrunkenem Volleinsatz.