Katharina Ley und MIchael Benthin in „Anna O.“

Kein Püppchen

RAUM + ZEIT: Freud träumt: Ann O.

Theater:Theater und Orchester Heidelberg, Premiere:20.09.2023 (UA)Regie:Bernhard Mikeska

Die Geschichte der Anna O. ist als erster Fall aus den „Studien über Hysterie“ (1895) von Sigmund Freud und Josef Breuer bekannt. Aus ihrer Sicht erzählt der Autor Lothar Kittstein nun in „Freud träumt::Anna O.“ die Geschichte von der Entstehung der Psychoanalyse. Bernhard Mikeska ist im Alten Hörsall des Physikalischen Instituts der Universität Heidelberg eine überzeugende Inszenierung mit stimmigem VR-Einsatz gelungen.

Der Alte Hörsaal des Physikalischen Instituts an der Universität Heidelberg im Philosophenweg ist ein wunderbarer Schauplatz der Inszenierung. Er wirkt wie aus der Zeit gefallen: enge steile Reihen, hölzerne Klappsitze, drei große grüne Tafeln, ein Waschbecken. Verstörend nur in diesem Bild ist ein Klavier, auf dem eine Orange und ein Lippenstift liegen. Es tritt ein Mann im Bratenrock und steifem Stehkragen auf, der sich als Freud vorstellt, der eine Vorlesung über die Geschichte der Psychoanalyse beginnt. Er malt auf die Tafel die Jahreszahl 1880 und den Namen Anna O. Aber Anna, deren wahrer Name Bertha Pappenheim erst 1953 offengelegt wurde, ist nicht die Patientin von Freud, sondern vom Internisten Josef Breuer.

Anzeige

Gespaltene Persönlichkeit im VR-Modus

In „Freud träumt::Anna O.“ erzählt Lothar Kittstein die Geschichte der Anna O. als Kampf über die Bedeutungshoheit zwischen Freud und Breuer. Er rekonstruiert weniger die hysterischen Anfälle der Patientin, sondern gibt dem Paar Anna/Bertha den Raum, ihr „Privattheater“ gegen diese patriarchalische Männerwelt zu inszenieren. Bernhard Mikeska geht in der Koproduktion von RAUM + ZEIT und dem Theater Heidelberg noch einen Schritt weiter. Während er die Männer ausschließlich live auftreten lässt, haben Anna und Bertha in ihrer Gespaltenheit in zwei Personen auch Szenen, in denen das Publikum sie nur sehen kann, wenn es eine VR-Brille aufsetzt. Da liegt plötzlich Anna schlafend neben einem, während sich der Hörsaal, der immer ein Hörsaal bleibt, in tiefe Abgründe verwandelt, die einen schwindeln lassen. Da verdoppeln – einmal verdreifachen sie sich gar – sich die Figuren in der Brille, schauen einen so hilflos wie durchdringend an: Sie brauchen Hilfe, sie brauchen Antworten.

Katharina Ley spielt die Anna und im schwarzen Kleid (Kostüme: Isabell Wibbeke) die Bertha Pappenheim nicht als Kranke, sondern als Fragende. Mehr noch wirkt sie aufmüpfig gegenüber Breuer. In manchen Momenten scheint es so, als ob sie mit ihrem Arzt spiele: Das gibt ihren Auftritten etwas Schillerndes. Obschon im Text die Symptome ihrer Erkrankung (und auch deren Genese) genannt werden, entsteht im Changieren zwischen Sein und Spiel ein flirrender Eindruck. Selbst in einer Szene, in der Breuer den Durst der Anna mit Orangenschnitzen löscht, wirkt Ley eher so, als ob sie Breuer vorführen würde. Kurz, sie inszeniert sich, wie auch in ihren Wutausbrüchen, wenn sie sinnlos auf das Klavier einhämmert. Andererseits sind diese Inszenierungen eine Abwehr gegen die Männerwelt. So, wie merkwürdigerweise nie die Rolle des sterbenden Vaters als Auslöser ihrer Psychosen thematisiert wird, schon bei Freud/Breuer nicht, so hinterfragt auch der Arzt in seinem Helfergestus nicht, welche Gewalt er über seine Patientin ausübt.

Rücksichtslose Doppelärzte

Den Breuer, wie den Freud spielt Michael Benthin. Freud spielt er als sonoren Professor aus einer untergegangenen Welt: ein weitläufiger Bildungsbürger aus dem Bilderbuch – und Benthin gibt da dem Affen Zucker. Aber wirkliches Interesse an Anna O.? Da ist ihm die eigene Reputation wichtiger, das spielt Benthin groß aus, wie auch in seiner Rolle als über Freud eifersüchtig schimpfender Breuer. Schließlich ist er einer, der experimentiert, der nicht nur Morphium und Hypnose zur Heilung anwendet, sondern auch die „Redekur“. Aber auch er akzeptiert Anna nur als spannendes Objekt. Für ihn ist sie nur ein „Fall“, selbst, wenn er nur in Unterhosen dasteht. Am Ende steht Bertha als schwarzgekleidete Puppe im Raum: Aber da ist sie schon nicht mehr das „liebe Püppchen“, sondern signalisiert ihren Krebstod 1936 in Frankfurt am Main. Sie musste nicht mehr miterleben, wie die Nazis 1938 ihr Lebenswerk zerstörten.Bernhard Mikeska ist eine starke Inszenierung gelungen. Die Aufgespaltenheit in die zwei Ichs der Anna und der Bertha ist in dieser „VR-Inszenierung“ gelungen, die Bilder in der VR-Brille sind von großer Dringlichkeit, unterlegt von einem Sounddesign (Knut Jensen) voller Geräusche, die das Flirrende-Geheimnisvolle unterstützen.