Wohngemeinschaft in „Meine Hölle“ (v.l.n.r.): Kateryna Kravchenko, Nicole Averkamp, Simon Mazouri und Vladlena Sviatash.

Nur nicht die Kontrolle über das Leben verlieren

Oksana Savchenko: Meine Hölle

Theater:Theater und Orchester Heidelberg, Premiere:25.02.2024 (UA)Regie:Simone Geyer

Die ukrainische Schriftstellerin Oksana Savchenko, Hausautorin am Theater Heidelberg, gestaltet ein Flüchtlingsschicksal in Deutschland mit den Mitteln einer Farce. Die überdurchschnittlichen Schauspielerleistungen garantieren den Erfolg der Uraufführung.

Als vor zwei Jahren Putin der Ukraine den Krieg erklärte, die ersten Raketen und Drohnen bürgerliche Viertel ausbombten, gab es nicht nur eine große Flüchtlingswelle, sondern in Deutschland viele Menschen, die helfen wollten. Helena, ehemalige Kunsterzieherin, wohnt mit ihrem erwachsenen Sohn Luka in einer Doppelhaushälfte in Heidelberg. Sie lebt vegan und folgt einem zwanghaftem Reinheitswahn. Und sie will helfen. Sie nimmt Olena und deren Tochter Marysja auf, Flüchtlinge aus der Ukraine. Und es kommt, wie es kommen muss: der Alltag nervt. Da wird der Müll nicht getrennt, da werden nach dem Duschen die Wassertropfen nicht aufgewischt, da wird die Waschmaschine nur für zwei Blusen angestellt.

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Was wie eine Farce über den Zusammenprall zweier verschiedener Lebenskulturen beginnt, endet dramatisch: der Krieg selbst mischt sich auch in diese deutschen Wohnverhältnisse ein. Olena ist verzweifelt, weil sie von ihrem Mann Jurko nichts mehr hört. Telefonanrufe in der Ukraine, beim Roten Kreuz und vielen anderen Stellen bringen keine Erlösung. Am Ende bleibt nur die Gewissheit, dass Jurko in einer Einheit war, die von den Russen überfallen und entweder gefangengenommen oder getötet wurden. Was Olena in ihrem Schmerz nicht merkt, ist, dass auch ihre Tochter Marysja unter den Folgen des Krieges leidet und sich in die Magersucht flüchtet. Wie es im Text heißt: „Wenn der Mensch die Kontrolle über sein Leben verliert, kontrolliert er das, was er noch kontrollieren kann.“ Hier: den eigenen Körper. Von diesem Nicht-Hinsehen aus eigener Befindlichkeit ist auch Helena nicht gefeit, auch ihre Lebenslüge zerschellt, die davon erzählte, dass der Vater von Luka in Alaska als berühmter Forscher lebt. Und Luka selbst, wie sein gescheiterter Selbstmordversuch zeigt, fühlt sich in dieser Welt nicht wohl.

Hilfe und Hilflosigkeit

In „Meine Hölle“ erzählt die Ukrainerin Oksana Savchenko, gegenwärtig Hausautorin am Theater Heidelberg, in ukrainischer und in deutscher Sprache – jeweils mit übertitelten Übersetzungen –, was der gegenwärtige Krieg und die traumatische Erfahrungen während der Flucht mit den Menschen macht. Wie der Schmerz einigelt, wie er blind macht für den Schmerz anderer Menschen. Wie Hilfe zur Hilflosigkeit wird, wenn man so fest auf den eigenen Standpunkt pocht wie Helena. Savchenko baut im Kleinen ein Szenarium auf, das aufzeigt, wie eine „gutgemeinte“ Haltung in Enttäuschung umschlägt und doch wieder, wenn es hart an die Existenz geht, ein Zusammenleben möglich ist. Simone Geyer nimmt in ihrer Uraufführungsinszenierung die von der Autorin gelegte Fährte, das Publikum erst einmal mit den Mitteln der Farce abzuholen, auf. Der szenische Raum von Mona Marie Hartmann ist von weißen Vorhängen eingekreist. In der Mitte dominiert ein überdimensionaler Tisch mit zwei überdimensionalen  und einigen kleinen Hockern. Alles ist mit Plüsch überzogen. Der Raum erzeugt eine Atmosphäre von Bürgerlichkeit, auch von Behaglichkeit.

Sehenswerte Schauspielerleistungen

Diese wird noch unterstrichen durch die Kostüme, die ebenfalls von Mona Marie Hartmann entworfen wurden: eine Mischung aus Schlaf- und Hausanzug, so als sichtbares Zeichen die Privatheit der Vorgänge betonend. Simone Geyer entwickelt zusammen mit dem Ensemble eindringliche Rollenportraits: Nicole Averkamp führt eine vitale Helena vor, die ganz von sich überzeugt ist, die in entscheidenden Momenten zuhören, in unpassenden Momenten aber auch mit dem Staubsauger durch den Raum gehen kann. Ihr Sohn Luka hingegen wird von Simon Mazouri als verdruckster, junger Mann dargestellt, der sich nicht von seiner Mutter lösen kann, obwohl er schon lange durchschaut hat, dass es sie selbst ist, die die Geburtstagskarten aus Alaska vom angeblichen Vater schickt. Das deutsche Personal wird ergänzt durch Hans Fleischmann, der den alten Nachbarn Paul als charmanten Biedermann anlegt. Um so erschreckender sind seine Ausfälle nicht nur zur Ausländerfeindlichkeit.

Vladlena Sviatash tritt als Olena forsch auf, akzeptiert die Regeln, die Helena setzt, und unterläuft sie. Im Verlaufe der Aufführung wird immer deutlicher, wie die Flucht und vor allen Dingen die Sorge um Jurko ihr Handeln bestimmen. Sviatash spielt diese Angst und den Schmerz groß aus. Als sie begreift, dass sie auch ihre Tochter zu verlieren droht, wendet sie sich wieder der Gegenwart zu. Auch dies ein Moment von großer dramatischer Intensität. Kateryna Kravchenko führt Marysja einerseits als in sich verschlossene, andererseits als neugierige Person vor. Diese Zerrissenheit zeigt Kravchenko in ihrem Spiel überzeugend. Allein wegen dieser Schauspielerleistungen, die die Schrecken des Alltags und die traumatischen Erfahrungen von Krieg und Flucht in ihren Widersprüchlichkeiten offenlegen, ist „Meine Hölle“ sehenswert.