"Messenger" von Louis Stiens

Hauptsächlich Stimmungsästhetik

Douglas Lee, Louis Stiens, Martin Schläpfer: CREATIONS IV-VI

Theater:Stuttgarter Ballett, Premiere:22.02.2020 (UA)Regie:Douglas Lee, Louis Stiens, Martin Schläpfer

Sechs Neukreationen – diese Uraufführungsdosis hat Stuttgarts Ballettintendant Tamas Detrich der Württembergischen Exzellenzkompanie in seiner zweiten Spielzeit verordnet. Sozusagen als zeitgenössische Umklammerung der Wiederaufnahme von Marcia Haydées klassischer „Dornröschen“-Fassung. Da wie dort, über alle Stilgrenzen erhaben: Die Stuttgarter Tänzerinnen und Tänzer klotzen mit und strotzen euphorisch vor technisch überragendem Können – an den Premierenabenden und gewiss darüber hinaus. Doch damit nicht genug!

Selbst wenn vorerst Schluss ist mit dem Titel „Hauschoreograph“: Solche superioren Bedingungen müssen für die Ideen eines jeden angefragten Tanzschöpfers Verführung pur sein. Ganz gleich, ob Detrich die Aufträge an in- oder aushäusig Tätige vergibt. Im Hinblick auf die neu initiierte „Creations“-Reihe hallen freilich – schon wegen des zeitlichen Abstands von weniger als drei Monaten – die visuellen Eindrücke der ersten drei zuvor im Schauspielhaus gezeigten, jeweils mit starken Licht- und Farbakzenten durchsetzten Stücke von Roman Novitzky, Fabio Adorisio (zwei choreographierende Ensemblemitglieder, die jetzt als Interpreten von Martin Schläpfer beziehungsweise Douglas Lee herausragen) und Andreas Heise (damals Gast aus Berlin) nach.

Entsprechend erwartungsgeladen kam man am 22. Februar ins große Haus des Staatstheaters Stuttgart, um bei der Fortsetzung „Creations IV–VI“ dabei zu sein. Geboten wurde ein insgesamt recht düsteres, in eher dunkle, schattig-gräuliche Atmosphäre getauchtes und zum Teil kryptisch-mystische Parallelwelten heraufbeschwörendes Triptychon. Gemeinsam gestemmt von Douglas Lee (ehemals Erster Solist der Kompanie, bevor er sich 2011 für ein Dasein als freischaffender Choreograph entschied), von Halbsolist Louis Stiens und schließlich von Martin Schläpfer als hyperarriviertem, vielfach ausgezeichneten Meister. 

Martin Schläpfer: „Taiyō to Tsuki“

Schläpfers prestigeträchtige Direktion des Balletts am Rhein läuft gerade aus. Es ist nicht ohne interne Pikanterie, dass seine Nachfolge in Düsseldorf und Duisburg ab der kommenden Saison der Stuttgarter Extänzer und als – nicht nachvollziehbare – Folge seines bemerkenswerten „Salome“-Abendfüllers abgewickelte Hauschoreograph Demis Volpi übernehmen wird. Schläpfer wiederum steht in den Startlöchern, sich der selbst gewählten, neuen Herausforderung „Wiener Staatsballett“ zu stellen. Wohl aus diesem „Dazwischen“ heraus kredenzt er Stuttgart zum krönenden Abschluss des Abends ein ungewöhnliches Werk, in dem thematisch subtil und mit musikalischer Verve unterschiedliche Künstlerindividuen und Momente des Balletttänzer-Seins filetiert werden.

Immer wieder raffiniert in eine Partnerschaft hinein- oder aus einer Gruppe herauschoreographiert, gehen die Tänzer im ersten Teil zu Franz Schuberts dahinstürmender Jugendsinfonie Nr. 3 in D-Dur ab wie Kanonen. Phänomenal und höchst sehenswert ist, wie sie in der klassisch fundierten, stets klaren Bewegungssprache des Schweizers aufgehen. Wenn sie nicht gerade irgendwo ruhig herumstehen, schwirrt die Luft nur so vor eleganten Körperlinien und virtuoser Sprungfertigkeit. Da können Kostüme gern gedämpfte Farben haben (Ausstattung: Florian Etti). Aber muss man wirklich so mit der Beleuchtungshelligkeit knausern? Schließlich verweist der Titel „Taiyō to Tsuki“ auf Sonne und Mond.

Musikalisch folgt auf Schubert mit Toshio Hosokawas Komposition „Ferne Landschaft III: Seascapes of Fukuyama“ ein satter, weniger rhythmusgeschwängerter Gegenpol. Alles – inklusive Tänzer – driftet langsam in eine andere, energiereduzierte Wahrnehmungsdimension. Inhaltlich vage und offen für Assoziationen. Das Licht noch mehr zu dimmen, ist hier ein schaler, einfallsloser Effekt. Taghell ging es vorher ja auch schon nicht zu.

Flankiert von sechs Frauen und sieben Männern lässt Schläpfer vor nicht weiter interessanter, klobig-kantiger Leuchtarchitektur eine unglaubliche Riege Erster Solisten brillieren. Friedemann Vogel eröffnet das Stück in grüblerischer Pose, den Kopf unter seinen Armen vergraben. Sobald es ans Tanzen geht, überbietet er sich. Kein Schritt, kein Griff der nicht sitzt. Das gilt auch für David Moore. Disharmonie im Pas de deux – damit wird Roman Novitzky konfrontiert. Doch die Situation verschiebt sich ins Private. Das Paar walzt langsam aneinander geschmiegt in die Kulisse. Die Musik schweigt.

Überaus selbstbestimmt treten Hyo-Jung Kang, Miriam Kacerova und Anna Osadcenko auf. Resolut setzen die starken Damen Spitzenschuhe ein, um ihre Ansichten deutlich und Standpunkte unmissverständlich zu machen. Bis sich zum Schluss jede Emotion und individuelle Wesenszüge in Diffusität auflösen. „Taiyō to Tsuki“ verglimmt nach 45 Minuten choreographisch einfach. Rechts ein nachdenklich dreinblickendes Gruppenarrangement. Links berühren Handrücken flüchtig die Stirn, schicken letzte Gedanken, vielleicht auch Erinnerungen an vergangene Zeiten in den Raum. Dann verschluckt Dunkelheit auch das kurze Erstarren des Publikums. Es ist ein frappierend intimer, stiller und bizarrer Abschluss. Er entlässt einen gefühlsmäßig irgendwie zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt in die Nacht. 

Douglas Lee: „Naiad“

Douglas Lee ist derzeit dick im Geschäft. Gerade erst hatte seine Interpretation von Strawinskys „Petruschka“ beim Ballett des Staatstheater Nürnberg Premiere. Von dort brachte er seine Ausstatterin Eva Adler mit. „Naiad“, das Auftaktwerk von „Creations IV–VI“, verdankt ihr optisch einen besonderen Kick. Immer wieder tauchen neun mobile, an herabsenkbaren Stangen befestigte Scheinwerfer in das kuriose Treiben dieser Unterwasserwelt ab. Sie erinnern an Teleskopkameras oder neugierige, silbrig glitzernde Fischaugen. Damit bekommt das Stück auch inhaltlich mehr Biss.

Inspiriert wurde der Londoner Lee, dessen choreographische Stärke und handwerkliche Farbigkeit in der jeweils gezielt auf ein Sujet abgestimmten formalen Wirkkraft steckt, von Mythen um das Wasser. Als sich der Vorhang hebt, befinden wir uns tief im Meer. Ein schwarzer Hänger aus leichter Plastikfolie bauscht sich anfangs noch über den Boden. Darunter wird ein entspannt dahintreibendes Geschöpf freigegeben. Das erste eines ganzen Schwarms von Najaden. Und die entpuppen sich abseits jeglicher Geschlechterspezifik als wahrhaft erstaunliche Formwandler – obwohl Ami Morita und das kesse Verbiegungswunder Elisa Badenes statt in Socken auf Spitzen tanzen. Manchmal so, als würden sie sich im menschlichen Gang versuchen. Sekunden später beherrschen sie den wiederum locker.

Von der Seite floatet eine Tänzerin mit graziler Armgestik, riesigen Glupschaugen und getragen von einer weiten Krinoline ins Bild. Kniet sie sich nieder, verwandelt ihr Rock sich in ein kleines Bassin. Solche Bilder halten die Zuschauer am Ball. Mit ihren Lippen formuliert Sinéad Brodd stumm Verszeilen aus Alfred Lord Tennysons Weltuntergangsgedicht „Der Krake“. Sie ergänzen Nicolas Sávvas Auftragskomposition um die gewollt bedrohlich-geheimnisvolle Aura. Vergleichbar James Camerons Film „The Abyss“. Nur dass es mehr als 30 Minuten dabei bleibt. Ohne dass sich erzählerisch eine Zuspitzung ereignet.

So obliegt es dem Staatsorchester Stuttgart unter der stets souveränen Leitung von James Tuggle, Lees Idee, die Materialität und das Plätschern, Strömen, Aufbrausen des nassen Elements auf die Körper und in Choreographie zu übertragen, klanglich quasi eins draufzusetzen. Zumindest das gelingt mit Joby Talbots klangschöner Komposition „Algal Bloom“ (übersetzt: „Algenblüte“) aufs Beste. 

Louis Stiens: „Messenger“

Überhaupt wäre dieser Dreiteiler in seiner allen Beiträgen zugrunde liegenden spezifischen Krudheit nicht vorstellbar, hätte man auf die Beteiligung der Musiker im Orchestergraben verzichten müssen. Rückgrat für das skurrile, den Zuschauer emotional noch am ehesten umhauende Mittelstück ist „Follow me“ des Prager Komponisten Ondřej Adámek. Es skizziert in drei lautmalerisch vereinnahmenden Sätzen für Violine und Orchester die Beziehung einer Gruppe zu ihrem Anführer und wurde 2017 im Rahmen der Münchner Musica-Viva-Konzerte vom Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks mit Isabelle Faust als Solistin uraufgeführt.

Tolle Wahl, ein Stück auf diese Musik zu kreieren, die erst kratzig klingt, dann, als würden alte Schränke knarzig atmen, Instrumente sägen oder miauen. Mit ihrem Scharren und dem Sound von Erbsen auf einer Trommel ist Louis Stiens eine fabelhafte Musikauswahl geglückt, um 17 Tänzer mit tierisch angewinkelten Händen in Unisex-Bodysuits über die Bühne zu jagen. Eine zweite Haut, die – so erfährt man aus den für die Nachbereitung aufschlussreichen Interviews im Programmheft – mit zerstörerischen Hautkrebszellen bedruckt ist.

Das erschließt sich zwar nicht aus dem reinen Zusehen, mag aber erklären, warum alle derart außer sich sind. „Messenger“ („Der Bote“) hat Stiens seine Arbeit genannt. Mit Shaked Heller steht dem Trupp ein kongenialer Interpret für Stiens’ unberechenbaren, explosiv-impulsiven Stil vor. Allein auf offener Bühne (Licht: Tanja Rühl) beginnt sich dieser zu verdrehen. Derart scharf konturiert, dass man meinen könnte, Zeichnungen von Egon Schiele würden in Bewegung geraten. Mittendrin klappt er einer Gottesanbeterin gleich zusammen.

Stiens’ Tänzer sind keine Menschen, vielmehr getriebene Kreaturen in einer Art apokalyptischem Zustand. Auch wenn die Ursache dafür im Wagen bleibt, schenkt man den Interpreten noch als humpelnden Zombies und mit gestutzten Flügeln Beachtung. Stiens Absichten sind superernst. Und das berührt. Zumal an einem Abend, an dem bloße Stimmungsästhetik mehr im Mittelpunkt zu stehen schien als Emotionsübertragung.