Foto: Das Ensemble des Wiener Theaters in der Josefstadt in "Jeder stirbt für sich allein" © Roland Ferrigato
Text:Christina Kaindl-Hönig, am 11. Dezember 2022
Umgeben von dicken, betongrauen Wänden, in fensterlosen Zimmern und in engen Innenhöfen, wo man den Himmel kaum sieht, hausen Menschen wie Tiere: eingeschüchtert, verängstigt, misstrauisch, einander belauernd, jederzeit bereit zum tödlichen Sprung. Im sozialdarwinistischen System eines totalitären Staates gilt das Recht des Stärkeren, da wird bespitzelt, denunziert und verleumdet, da triumphiert die Willkür der Herrschenden über die Solidarität der Unterdrückten, da wird gequält und ermordet, wer sich dagegen auflehnt.
Wie aus einem der kubistischen Gemälde Lyonel Feiningers, die von den Nationalsozialisten als „entartet“ gebrandmarkt wurden, erscheint das schmucklose Gebäude auf der Drehbühne des Wiener Theaters in der Josefstadt: Das graue Haus als Metapher für das gesellschaftliche Bestiarium im „Dritten Reich“.
All jenen, die dagegen Widerstand geleistet hatten, setzte Hans Fallada mit seinem düsteren Roman „Jeder stirbt für sich allein“ ein literarisches Denkmal. Denn sein sozialrealistisches Buch, das der Dichter 1946 kurz vor seinem Tod in nur vier Wochen schrieb, basiert auf der realen Geschichte des einfachen Arbeiterehepaars Otto und Elise Hampel: Sie verfassten unter Todesgefahr mehr als 200 Postkarten, die sie in Berlin heimlich verteilten, um die Bevölkerung zum Widerstand aufzurufen. 1943 wurden sie von den Nazis in Plötzensee hingerichtet.
In Anbetracht des Erstarkens antidemokratischer Kräfte und eines menschenverachtendes Krieges mitten in Europa ist es notwendig und verdienstvoll, mit Falladas großem Roman an Zivilcourage und Widerstandsgeist zu erinnern. Im Auftrag des Theaters in der Josefstadt umgearbeitet von Franz Wittenbrink zu einem „musikalischen Schauspiel“ (Libretto: Susanne Lütje und Anne X. Weber), brachte den Stoff nun Josef E. Köpplinger, der Intendant des Münchner Gärtnerplatztheaters, mit einem beherzten Großensemble in Wien zur Uraufführung.
Revuenummern statt Beklemmung
Begleitet von Schlagerklängen eines akustisch leider allzu gedämpften, weil hinter der Bühne Walter Vogelweiders platzierten Live-Quintetts (musikalische Leitung: Christian Frank), feiert das von Fallada umbenannte Ehepaar Quangel mit Nachbarn und Gugelhupf Silberne Hochzeit. Wenig später erreicht sie die Nachricht vom Tod des in Frankreich gefallenen Sohns, dem Keim ihres Widerstands: „Heldentod – alles Lüge!“. Still nach innen gekehrt, lässt Otto Quangel, dem Michael Dangl berührend Kontur verleiht, die Schultern hängen. Die Hände nah am Bund, zeigt er sich als duldsamer Soldat des Ersten Weltkriegs, dessen Gefühlsverleugnung auch der Ehefrau (Susa Meyer) den Trost versagt, ehe er am Küchentisch einsam schluchzend zusammensinkt.
Mit neunzehn der Unterhaltungsmusik der 1940er-Jahre nachempfundenen Songs, erzählen Wittenbrink und Köpplinger die Tragödie des Widerstandspaares als auf die rudimentäre Handlung zurechtgestutzte Nummernrevue im historischen Ambiente: Die Bühne dreht sich von Quangels Küche zum Verhörzimmer des Kommissars Escherich (eindringlich: Raphael von Bargen) bis zum Rauch erfüllten Nachtclub „Paprika“, wo Hausherrin Eva Andrássy (Nadine Zeintl) im schwarz-glänzenden Paillettenkleid (Kostüme: Dagmar Morell) den von Goebbels fallengelassenen Schauspieler Harteisen (Martin Niedermair) singend umschwirrt. Mit seinen charmanten Strizzis (Claudius von Stolzmann als Enno Kluge), verschwörerischen Kommunisten (Paula Nocker als Trudel Baumann), buckelnden Mitläufern (Marcello De Nardo als Klenze) und SS-Schergen (Robert Joseph Bartl als gemütlich-grausamer Obergruppenführer Prall) erinnert das Szenario an den US-amerikanischen Film „Cabaret“ von 1972.
Doch weder erreicht es dessen dichte Atmosphäre und abgründige Bissigkeit noch den lustvollen Verve der Musik von John Kander, die die Verzweiflung einer exaltiert am Abgrund tanzenden Gesellschaft hörbar macht. Zumal das Ensemble – ausgenommen Paul Matić als Denunziant Borkhausen und Susa Meyer (Anna Quangel) im Duett mit Elfriede Schüsseleder (Frau Rosenthal) – eher nur leidlich die Gesangspartien bewältigt.
In Koepplingers redlich-konventioneller Regie und mit Franz Wittenbrinks routinierter Musik, die kaum Eigencharakter entwickelt und erschreckende Szenen befremdlich unterhaltsam kontrastiert, verblassen Horror und Brisanz von Falladas unerträglich düsterem Zeitdokument, worin die menschenverachtenden Strukturen eines autoritären Systems erschreckend deutlich werden. Trotz des metaphorisch starken Bühnenbilds vermag diese harmlose Revue die (selbst)zerstörerischen Kräfte unserer Gegenwart weder sichtbar noch spürbar zu machen.