Foto: Die Familienmitglieder versuchen sich gegenseitig zu beeinflussen. © Robert Schittko
Text:Judith von Sternburg, am 15. Februar 2025
Bei der deutschsprachigen Erstaufführung von Hanoch Levins „Dingens“ am Schauspiel Frankfurt präsentiert Regisseurin Sapir Heller das brutale Spiel um Macht innerhalb einer Familie. Gekleidet wie Spielfiguren vollziehen die Darstellenden ihre eiskalten Schachzüge auf der Bühne.
Der Dramatiker Hanoch Levin, 1943 in Tel Aviv geboren, 1999 ebendort gestorben, hat 61 Stücke hinterlassen. Er gehörte und gehört in seiner Heimat zu den prägenden Theaterautoren und auch Theatermachern. Die in München lebende israelische Regisseurin Sapir Heller, Jahrgang 1989, nennt ihn einen „israelischen Brecht“ und erklärt, sie habe immer darüber gestaunt, wie unbekannt er in Deutschland sei. Inzwischen mag eine Rolle spielen, dass Levins Texte in die Jahre gekommen sind, das Politische im leicht absurden, Samuel-Beckett-artigen Gewand steckt. Umgekehrt könnte man sagen: endlich einmal wieder so etwas, und doch ganz unbekannt und eigen.
Zumal Sapir Heller sich für die deutschsprachige Erstaufführung von „Dingens“ in den Kammerspielen des Schauspiels Frankfurt einiges ausgedacht hat. Und „Dingens“ selbst (übersetzt von Matthias Naumann) ein so abgrundtief pessimistisches Gleichnis auf das menschliche Miteinander/Gegeneinander in der Keimzelle Familie ist, dass es einen schaudert. Nicht nur, weil die Boshaftigkeit so völlig erklärungslos und zugleich unerbittlich daherkommt. Es ist auch frappierend, dass 1972 (im Entstehungsjahr von „Dingens“) eine gesellschaftliche Eiseskälte in Szene gesetzt werden konnte, die 2025 dermaßen aktuell erscheint.
Morbide Komödie
„Dingens“ ist dabei eine ins Drastische reichende Komödie, die nicht so sehr von Wortwitz lebt als von der blank zur Schau gestellten menschlichen Schlechtigkeit. Der gleichnamige Protagonist Dingens wird von dem Ehepaar, bei dem er lebt, schikaniert und gedemütigt. Jede Lebensfreude wird ihm abgesprochen. Das Paar mitsamt der schönen, freien Tochter trägt auch untereinander Konflikte aus. Aber als Opfer muss dann doch wieder Dingens herhalten. Wenn er schließlich in die Offensive geht und seinen Freitod ankündigt, erscheint das allen bloß folgerichtig. Als sich die Sache hinzieht, hilft einer nach.
Nein, das klingt nicht besonders komisch, eher öde. Ist es auch. Zudem wurde es politisch verstanden. Angefangen damit, dass die höchst selbstbewusste Tochter ausgerechnet 24 Jahre alt ist, genauso alt wie Israel damals. In Frankfurt lässt Heller sich nicht darauf ein, etwas zu erklären, was der Text nicht erklären will. Sie nimmt ihn als zeit- und ortlosen Solitär. Die Ausstatterinnen Ursula Gaisböck und Sophia Profanter haben eine weiße Spielfläche mit ein paar schwarzen Markierungen eingerichtet, die vage an „Mensch ärgere Dich nicht …“ erinnern. Von der Decke hängen zudem große schwarze Kugeln, von denen gelegentlich eine herunterstürzt. Gemeingefährlich. Und ein Spiel, dessen Regeln weder wir noch die auf der Bühne begreifen können.
Vielschichtige Spielfiguren
Das in Lieblosigkeit und Gemeinheit verwickelte Sextett – das ist ein in Frankfurt großartig gelöster Balanceakt – besteht zwar aus in krasse Kostüme gesteckten Spielfiguren, aber die Menschen werden doch sichtbar und plastisch. Wie direkt vom Schachbrett kommen, wenn auch in Gelb und Grün, Katharina Linder und Uwe Zerwer als bürgerlich-spießiges Ehepaar Klamanope und Teigalech. Aus einem knallblauen Rüschentannenbaum lacht Lotte Schubert als Tochter Fogra alle Widrigkeiten weg. Philipp Lind in einer schwarzweißen Säule ist Dingens‘ kränkelnder, larmoyanter Freund Adasch Bardasch. Viktoria Miknevich ist selbst der Tisch, auf dem die sanfte Servicekraft Hannah Tcherlitch Kaffee und Tee serviert. Dingens Christoph Bornmüller ist ein Riesendonut, knautschbar und unförmig. Trotzdem stellt sich Dingens’ zunehmend verzweifelter Versuch, sich zu behaupten, als zutiefst menschlicher Vorgang dar.
Gibt es keine Hoffnung? Nein, aber Heller lässt Dingens‘ Umgebung nach und nach heraus aus den Kostümen: ein Hauch von Befreiung nach zwei pausenlosen Stunden der Dingens-Vernichtung. Inszenierung und Stück wahren ihre Rätselhaftigkeit. Es ist aber eine Rätselhaftigkeit, die neugierig macht. Omer Kleins Musik interveniert und kommentiert unterhaltsam, manchmal entsteht Stummfilm- oder Zirkusatmosphäre.