Foto: Michael Kupfer-Radecky (Amfortas), Daniel Eggert (unten als Titurel) und Chor © Sandra Then
Text:Ulrike Kolter, am 25. September 2023
Zur Saisoneröffnung zeigt die Staatsoper Hannover einen bildgewaltigen „Parsifal”, inszeniert von Thorleifur Örn Arnarsson. Hier ist der titelgebende reine Tor nicht naiv, sondern trifft als Knabe, Mann und Greis sehr reflektierte Entscheidungen für sein Leben. Aber was kann ein Held der Gemeinschaft geben, die sich nicht selbst helfen will?
Die Macht des Amfortas ist offensichtlich angeknackst. Nicht nur wegen der ewig vor sich hin blutenden Wunde, die einst Klingsor mit dem heiligen Speer ihm schlug und die ihn hier, in diesem Endzeitarrangement, taumeln und wanken lässt wie irre. Amfortas‘ Hornkappe hat ein halbes Horn schon eingebüßt, während Gralskönig Titurel (Daniel Eggert) noch stattliche Widderhörner trägt und die Gralsgemeinschaft sich immer, wenn‘s zur heiligen Gralsenthüllung geht, die Hörner aufsetzt, um Teil der göttlichen Kraft zu werden.
Zeichensysteme und wuchtige Symbolik liegen dem isländischen Regisseur Thorleifur Örn Arnarsson mehr als schnödes Thesentheater. Ersteres liebt das Publikum – und macht Arnarssons Inszenierungen so bildgewaltig wie angenehm streitbar. 2018 formte er das isländische Nationalepos „Edda“ am Schauspiel Hannover zum nebeligen Weltuntergangstheater und kassierte dafür den Deutschen Theaterpreis. Nun hat er sich Wagners Bühnenweihfestspiel vorgenommen – mit ähnlich assoziativer Kraft. Dieser „Parsifal“ macht etwas mit uns, weil er uns nicht fremd bleibt.
Zwischen Baumstümpfen und heiligem Metallpodest
Die Bühnenwelt von Wolfgang Menardi zeigt uns ein artifizielles Durcheinander aus Felsbrocken, Erdhaufen und Stahlkonstruktionen. Vom Wald um Monsalvat sind nur noch hohe, schwarze Baumstümpfe übrig, dazwischen bildet ein fahrbares Metallpodest den Hort aller sakralen Handlungen: Die Flüssigkeit dort drinnen füllt sich durch qualvollen Aderlass der Gralsgemeinschaft. Hier benetzten sie sich träge die Gesichter, hier wird Parsifal später Kundry taufen und alle Gralsritter gleich mit. Klingsors Zaubergarten dagegen ist nur ein weiß-steriler Raum, in dem die verschleierten Zaubermädchen in Trance herumhocken, reizlose Nacktkostüme (also Kleider mit Fotografien nackter Körper darauf) tragen und erst bei Parsifals Erscheinen aus ihrer Lähmung aufschrecken.
Parsifal als bedachter Sympathieträger
Was verständlich ist bei diesem hochgewachsenen „reinen Tor“, den Marco Jentzsch als bedacht sympathischen Parsifal anlegt, als stillen Beobachter, der von der Seitenbühne aus einschreitet ins dunkle Dösen der Ritterschaft. Bei Arnarsson durchläuft er tatsächlich ein ganzes Menschenleben: als Junge im ersten Aufzug, als gestandener Mann im zweiten und final dann als Greis, stets gut gekleidet im dunklen Anzug mit weißem Hemd.
Selten zuletzt sah man den zentralen Erkenntnismoment über die eigene Berufung Parsifals so beglaubigt wie bei Jentzsch im Dialog mit Kundry – wissend durch Mitleid mit Amforts. Auch wenn Jentzsch im Finale mehr durch Emotionalität als nur Stimmkraft besticht: Dieser Parsifal fasst uns an, als zeitloser Held, der zum Messias sich geißelt, selbst mit dem Speer eine Wunde sich sticht und Amfortas damit erlöst. Bleibt die Frage, ob diese lethargische Gemeinschaft ihn überhaupt verdient hat.
Starke Charaktere und Tableaus
Feine Charakterzeichnung ist eine Stärke des isländischen Regie-Stars ebenso wie große Ensemblebilder: Da hängt Amfortas an zwei Seilen jesusgleich in der Höhe, nebelgetränkte Chortableaus erscheinen oder verschwinden im offenen Bühnenhintergrund und Amfortas tänzelt geistesabwesend zur Gralsenthüllung vor einem gleißend-weißen Lichtquader. Michael Kupfer-Radecky gibt ihn mit rauem Herrscherton als Komödiant und Wahnsinniger zugleich, der sichtlich mehr psychisch leidet als physisch. Auch seinen eigenen Antipoden Klingsor meistert er in Doppelfunktion als großartiger Sängerdarsteller mit beachtlicher Ausdauer.
Irene Roberts gibt eine Kundry von Weltklasse, setzt ganz bewusst ihre Weiblichkeit ein, ist kein wildes Weib und erst recht nicht dauermüde. Der Gurmenanz von Shavleg Armasi hingegen scheint gelangweilt vom Grals-Trott, steht meist steif parlierend vor seinen Anhängern oder hockt sich abwartend an die Seite. Chor, Extrachor, Kinderchor, Bewegungschor und Statisterie der Staatsoper Hannover ergänzen die großformatige Spielzeiteröffnung, die sich dennoch nachhaltig präsentiert: Kaum neue Stoffe mussten angeschafft werden für die über 100 Kostüme, und auf die Anzüge der Gralsritter wurden erhitzte, geschmolzene Stoffreste aufgenäht; bunte Elemente als offene Wunden sozusagen (Kostüme: Karen Briem, Nachhaltigkeitsdesign: Andri Unnarson).
Stephan Zilias führt das Niedersächsische Staatsorchester eher kraft- als weihevoll, gelegentlich hapert es im Blech, dafür badet man im Fortissimo des Chores, was der offenen Bühne dient. Die lässt Arnarsson zu Beginn des 3. Aufzuges von dutzenden Techniker:innen gewaltig umbauen – vor Augen des Publikums, zur Mittagsstunde am Karfreitag. Zurück auf Anfang? Alles umsonst? Ein Wachrütteln der Gemeinschaft oder des Einzelnen?
Dann startet die rote Digitaluhr in der Bühnenmitte neu, die zuvor ausgefallen war, mal rückwärts lief, oder schneller wurde. Zum Raum wird hier die Zeit. Aber sie ist aus den Fugen. Und rennt uns sichtbar weg.