Foto: Szene aus „Echo 72” © Sandra Then
Text:Detlef Brandenburg, am 26. Januar 2025
An der Staatsoper Hannover gelingt Lydia Steier eine dramatisch packende Inszenierung von Michael Wertmüllers neuer Oper „Echo 72 – Israel in München“ nach dem Anschlag bei der Münchener Olympiade 1972.
Diesen szenischen Höllenritt: Nein, den hätte man nun doch nicht erwartet bei der Lektüre von Libretto und Partitur. Dabei ist allein schon das Thema spektakulär, aber auch ebenso heikel und komplex. In Michael Wertmüllers neuer Oper „Echo 72. Israel in München“ geht es um den Anschlag der palästinensischen Terrorgruppe Schwarzer September auf die israelischen Sportler bei der Münchener Olympiade 1972, die die deutschen Ausrichter so gerne als Fest des olympischen Geistes, der Fairness und der Völkerverständigung gefeiert hätten. Es wurde auch weiter gefeiert, nachdem elf der vierzehn israelischen Teilnehmer ermordet waren und die Geiselnahme im Kugelhagel einer katastrophal dilettantischen Befreiungsaktion auf dem Flugplatz Fürstenfeldbruck geendet hatte. Aber der „olympische Geist“ war dahin. Der Anschlag war gewissermaßen die Mutter aller Anschläge auf deutschem Boden: Anfangspunkt einer blutigen Spur, die sich durch die Jahrzehnte zog bis hin zu Nine-Eleven oder den Messerattacken von Asylanten aus islamischen Ländern.
Musiktheatertauglickeit?
Opern über Anschläge? Eine seltsame Konstellation, aber neu ist sie nicht. Prominentestes Beispiel wäre „The Death of Klinghoffer“ von John Adams über die Entführung des Kreuzfahrtschiffs „Achille Lauro“ durch Terroristen der Palästinensischen Befreiungsorganisation. Wenn man allerdings das Libretto von Roland Schimmelpfennig liest, kommen einem doch Zweifel an der Musiktheatertauglickeit. Ja, Schimmelpfennig hat einen brillanten Text geschrieben. In lyrischen Repetitionsstrophen umkreiset er zwei Themenkomplexe, die prägend waren für dieses internationale Sportfest: In fast hymnischen Gesängen preist der Chor zunächst die Ideologie von Völkerverständigung und fröhlichem Sportfest, die die Veranstalter für Deutschland reklamieren wollten. Und in sentenzhaft sich wiederholenden Wortschleifen erklären die Sportler das Ethos ihrer Disziplin, stets das olympische Dabeisein-ist-alles-Motto betonend.
Doch je weiter sich die Schleifen drehen, desto mehr fräsen sie auch die Einsicht in die The-Winner-takes-ist-all-Mentalität des Sportbetriebs und den physiologischen Raubbau am eigenen Körper auf. Und je deutlicher das Attentat hervortritt, desto tiefer wird die Einsicht in den Verklärungscharakter dieser Friede-Freude-Eierkuchen-Spiele. Am Ende bleibt als gemeinsamer Bodensatz des einen wie des anderen: der Kampf aller gegen alle.
Eine wuchtig pulsierende Musik
Nein, das ist kein heiterer Stoff, obwohl ihn Schimmelpfennig in schwungvolle Dithyramben packt. Vor allem aber: Es ist kein dramatischer Stoff, denn diese Zeilen rekonstruieren keine Handlungen, sondern sie dekonstruieren Ideologien. Michael Wertmüllers wuchtig pulsierende Musik gibt den Versen eine rhythmisch scharf durchakzentuierte Steigerungsdramaturgie, die mit gemächlichen 60 Viertelnoten pro Minute beginnt und in ihren Spitzenumdrehungen so um die 236 bpm erreicht. Obendrein heizt seine Leib- und Magenband Steamboat Switzerland dem Orchestersound mit Hammondorgel, E-Bass und Drumset mächtig ein. Anfangs noch schmeicheln die Streicher mit Liegetönen, aber mehr und mehr kommt der Turbo des Schlagwerks auf Touren, die Flöten figurieren aberwitzig, das Blech schmettert, die Hammond dröhnt. Dieser Soundtrack folgt kongenial dem Text. Mit seinen blockhaft skandierten, von repetitiven Rhythmuspattern vorangetriebenen Chorpassagen und den hymnisch deklamierenden Solopartien erinnert er aber eher an ein Orff-Oratorium als eine Oper.
Dass dann mitten in die schon weit voran getriebenen Vorbereitungen das Massaker der Hamas an der jüdischen Bevölkerung vom 7. Oktober 2023 fiel, machte die Sache für alle Beteiligten nicht einfacher. Aber hier fiel dann auch eine erste glückliche Entscheidung: nämlich die, auf eine kurzfristige Aktualisierung zu verzichten und stattdessen den weiten Perspektiven zu vertrauen, die Schimmelpfennigs Text aufspannt, wenn er die bange Frage stellt, wen denn das Geschoss des Sportschützen wohl treffen würde, wenn es immer weiterflöge, „nachdem es alles zerreisst, / was, wenn es dann / nicht aufhört zu fliegen, / was, wenn es immer weiter / und weiter fliegt, / wieder und wieder / um die ganze Welt?“ Da ist Spur des Terrors schon vorgezeichnet.
Szenische Installation statt Handlungsbehauptung
Die zweite glückliche Entscheidung trafen die Regisseurin Lydia Steier und ihr Bühnenbildner Flurin Borg Madsen: Indem sie auf jede realistische Handlungsbehauptung verzichteten und ihre Inszenierung stattdessen als szenische Installation anlegten, gleichsam als ein Museum der metaphorischen Aktionen, gelingt es ihnen, diesem erratischen Soundtrack eine bühnentaugliche Gestalt abzugewinnen. Der Schlüssel dazu ist das Bühnenbild von Madsen: eine Drehscheibe, auf die er verschiedene Segmente dieses olympischen Museums gebaut hat, mit Vitrinen, in denen Sportler ihre Übungen vollführen, umwimmelt und umgiggelt von einer kunterbunten (vom Chor fantastisch verkörperten) touristischen Spaßgesellschaft, die die Sportler genauso sensationslüstern bestaunt wie das in den blutig ausartenden Wettkämpfen versinnbildlichte Attentat. Die steigern sich zum wilden Totentanz, bis alles kaputt ist: die schöne Idee der Völkerfreundschaft, der Geist von Olympia, die Ideologie der Fairness – sogar die Drehscheibe ging bei der Premiere kaputt und sorgte für eine 15-minütige Unterbrechung. Geführt und vor allem stimuliert wird dieses Geschehen von der Figur der Klage, die sich von der Museumsaufseherin zum goldenen Todesengel wandelt (und im Video kurzzeitig von Corinna Harfouch als Nachrichtesprecherin übernommen wird).
Glänzendes Dirigat von Titus Engel
Dass nach der Unterbrechung mit der Drehscheibe auch der Abend musikalisch wieder in Fahrt kam, ist dem nervenstarken und glänzend koordinierenden Dirigenten Titus Engel zu danken, der das riesige Ensemble, das agile Orchester und den großartigen Chor präzise führte und impulsiv animierte. Unter den durchweg guten Solisten mag man den Tenor Ziad Nehme nennen, der die aberwitzige Partie des Polizisten mit aller nötigen Überzeichnung herüberbrachte, oder die lyrische Koloratursopranistin Ketevan Chuntishvili als brillante Leichtathletin, aber auch die Mezzosopranistin Idunnu Münch, die als Klage enorm bühnenpräsent war und keine vokale Entäußerung scheute.
Es gelang nicht alles. Der Beginn ließ sich schleppend an, angesichts der späteren Turbulenz wurde um so deutlicher, dass sich Schimmelpfennigs so raffiniert komponierte Textketten szenisch kaum transportieren lassen. Und manche Zuspitzung war durch Text und Musik nicht wirklich gedeckt. Als Ganzheit aber war es ein starker Abend, der sein heikles Thema effektvoll auf die Bühne brachte, ohne sich durch wohlfeile Lösungen für ein Problem zu kompromittieren, das auch nach 52 Jahren Abstand noch immer akut und ungelöst ist. Denn so furios dieser Totentanz um einen Terrorakt auch loslegte – sein Zentrum war und bleibt abgrundtief traurig.