Choreografischer Höhenflug

Andonis Foniadakis: Ikarus

Theater:Staatsoper Hannover, Premiere:07.03.2025 (UA)Komponist(in):Julien Tarride

An der Staatsoper Hannover ist Andonis Foniadakis’ Neukreation „Ikarus“ ein spektakuläres wie sinnliches Erlebnis, durch das sich der Höhenflug des Ikarus als Leitmotiv zieht. Dazu passt die elektroakustische Klanglandschaft von Julien Tarride.

Das Geschehen auf der Bühne beginnt prompt und endet abrupt – genau wie ein Sturz. Nichts bereitet auf den Aufprall vor. Während des Fallens kann das menschliche Gehirn alle möglichen Gefühle und Erinnerungen Revue passieren lassen. Plötzlich und in Sekundenschnelle. Vergleichbar schlaglichtartig intensiv geht es in Andonis Foniadakis’ Neukreation „Ikarus“ für das Staatsballett Hannover zu – sowohl akustisch als auch visuell. Dieser „Ikarus“-Abend wird zum spektakulären, höchst sinnlichen Erlebnis.

Die Mythen aus Foniadakis’ griechischer Heimat

Schon im drastischen ersten Bild wird der Inhalt mit Hilfe eines schrillen Tons, eines gefiederten Flügelkostüms (Anastasios Sofroniou, Kostüme) und einer tollen Lichtstimmung (Sakis Birbilis, Bühne und Licht) in seiner gesamten Tragweite auf den Punkt gebracht. Die Mythen seiner griechischen Heimat kennt der Choreograf bestens. Sie haben Foniadakis’ Kindheit geprägt. Womöglich gelingt es ihm deshalb so gut, sich vom bloßen konkreten Nacherzählen und Schildern faktischer Details der Geschichte zu lösen.

Der eigentliche Plot ist schnell erzählt: Ikarus schlägt die Warnungen seines Vaters Daedalus in den Wind. Beide werden auf der Insel Kreta von König Minos im Labyrinth des Minotaurus gefangen gehalten. Dank der Erfindung von Flügeln aus Wachs gelingt ihnen die Flucht. Ikarus wird aber im Zuge dieses grenzüberschreitenden Freiheitsgefühls übermütig und will zu hoch hinaus. Seine Flügel schmelzen, als er der Sonne zu nahe kommt. Er stürzt ins Meer und ertrinkt.

Foniadakis’ Zugriff, die Vorlage zeitgenössisch aufzubereiten, ist ein universeller, zeitlos assoziativer und durchweg rein tänzerischer. Dennoch gelingt es ihm und seinem Team, alle wichtigen inhaltlichen Elemente und die beiden Hauptcharaktere erkennbar unterzubringen. Das vollzieht sich – in Episoden vom tragischen Schluss her aufgerollt – zwar überraschend bruchstückhaft und abstrakt, dafür aber enorm dynamisch, psychologisch tief (weil bewegungstechnisch so klar sprechend), phasenweise unglaublich poetisch und in bestimmten Momenten regelrecht ergreifend. Letztlich fügt sich alles zu einem beeindruckenden Gesamtkunstwerk zusammen.

Der Sturz von Ikarus als Leitmotiv

Mit nur einer Stunde Spieldauer ist „Ikarus“ keinen einzigen Atemzug zu lang. Die physischen Herausforderungen für die Tänzerinnen und Tänzer sind immens. Trotz formaler Kürze und Ikarus’ Sturz als oft wiederholtes Leitmotiv, das sich choreografisch und sonor durch das Stück wie Ariadnes legendärer roter Faden zieht, herrscht hier ein bahnbrechender Reichtum an Symbolik, stets unvorhersehbarem kreativen Input und eine – im positiven Sinn geradezu tunnelblickmäßig – auf das emotional Wesentliche konzentrierte darstellerische Kraft. Das Einzige, was man nach der Uraufführung schmerzlich vermisst, ist, das Ganze gleich noch einmal sehen zu können.

Dazu eine elektroakustische Klanglandschaft

Julien Tarride hat für Foniadakis und seine eindringliche Verarbeitung des Phänomens „Fallen“ eine wunderbar lautmalerisch-elektroakustische Klanglandschaft komponiert – durchzogen von vorab aufgenommenen orchestralen Passagen des Niedersächsischen Staatsorchesters und zum Schluss noch mit dem Chor der Staatsoper Hannover. Mittendrin lässt der französische Komponist eine nüchterne dunkle Männerstimme aus dem Off in einem eigenen Gedicht auf Englisch über die „Ekstase des Fliegens“ reflektieren. Dazu bewegt sich das gesamte Ensemble in einer Art eruptivem Fluss über ein leicht erhöhtes Bühnenrund. Die Tänzerinnen und Tänzer sind Natur, Schatten, verlängerte Schwingen, innere Stimmungen oder auch Doppelgänger von Ikarus und Daedalus. Immer wieder fliegen einzelne von ihnen in Hebungen und Drehungen durch die Luft.

Das sanft zum Parkett hin geneigte und seitlich sporadisch rundum aufleuchtende Podest dient im Verlauf des Stücks als Insel. Später, nachdem sechs Männer in rüstungsartig silbrigen Oberteilen die Verklebungen der weißen Tanzbodenbahnen weggezogen haben, wird es zur totbringend schwarzen See und – zu guter Letzt – zum spiegelnden Untergrund für einen famosen finalen Lichtzauber. Von hinten taucht hierzu ein funkelndes Portal aus verspiegelten Prismen auf – symbolisch für die Sonne, an der sich Ikarus mit seinen Flügel verbrennt.

Ein eindringliches Duo

Obwohl das Programm keine Rollenamen nennt: Floris Puts – der größte und mit erst 19 Jahren jüngste Tänzer der Truppe – IST Ikarus. Er personifiziert dessen Streben, Sehnen und Sterben mit Haut und Haar: jugendlich selbstbewusst, stark und gleichzeitig voller noch kindlicher Zerbrechlichkeit. Mit Jamal Uhlmann als Daedalus hat er einen älteren Kollegen an seiner Seite, der ihn wiederholt auffängt und vom zwangsläufigen Scheitern abzuhalten versucht. Jeder für sich und in eindringlichen Duos gemeinsam verkörpern beide vom ersten Augenblick an Foniadakis’ Idee von Ikarus als Individuum und Teil einer engen Vater-Sohn-Beziehung.

Die Leichtigkeit, mit der Puts von Uhlmann in die Lüfte gehoben wird, macht Staunen. Und wie in diesem Ballett überhaupt Männer andere Männer bis weit über ihre Schultern hinaus – scheinbar gegen alle Gesetze der Schwerkraft – hochstemmen und herumtragen, lässt an diesem Abend vor allem die Riege der männlichen Tänzer des Staatsballetts Hannover strahlen.