Foto: Es ist was faul im Staat beim Leipziger "Hamlet" © Rolf Arnold
Text:Tobias Prüwer, am 6. Oktober 2014
„Mach Schluss mit dem Gehampel!“, die an Hamlet gerichtete Aufforderung erntet im Schauspiel Leipzig leisen Zwischenapplaus. Der mag aber lieber noch eine Weile das Stück im Stück spielen, bevor er 60 Minuten später sein Ende auf der Fleischbank findet – unter allgemeinen „Buh“-Rufen des Publikums. Denn nachdem sie fast dreieinhalb Stunden Langeweile auf der Bühne ertragen mussten, fühlten sich viele Zuschauer vom abschließenden Horror-Splatter-Clip überfordert, verhöhnt oder angewidert.
Klar, am Schluss sind die Figuren (fast) alle tot bei Shakespeare. Warum sie in Thomas Dannemanns – er führte Regie und zeichnete fürs Bühnenbild verantwortlich – Leipziger Bearbeitung „Hamlet. Prinz von Dänemark“ in einer bluttriefend-oppulenten Selbstzerfleischung untergehen sollen, erschließt sich dramaturgisch nicht. Zumal der Regisseur unbedingt, und hieran entzündete sich die Publikumschelte, unbedingt eine Enthauptungsszene à la Islamischer Staat unterbringen musste. „Hamlet“ ist so häufig interpretiert worden, dass man sich in Leipzig offenbar nicht anders zu helfen wusste, als dem Stoff mit billigsten Aktualisierungsversuchen und plumpen Regieeinfällen einen eigenen Dreh zu geben. Dabei schimmert mal die „Hamletmaschine“ (Heiner Müller) durch, werden Comedian Kurt Krömer wie die Comedian Harmonists heranzitiert, dann wieder sucht Deutschland seinen Superstar. „Ehrlicher ist ein ehrlicher“: So klingt modernisierter Text anno 2014 als „Tatort“-Anspielung.
Dabei fällt die Grundkonzeption der Inszenierung erst einmal positiv auf. Der Bühnenraum ist bis auf ein Gehäuse aus Holz und Plexiglas leer. Das mutet über den Abend mal wie eine jener mondänen Villen an, in denen im öffentlich-rechtlichen Krimi immer die angeblich normalen Menschen wohnen. Mal ist es Burg, dann Klosett, Abdeckerei. Daraus ergibt sich allerdings das Problem, dass viele Szenen hinter dem Plexiglas stattfinden, weshalb die Schauspieler mit Funkmikrophonen ausgestattet sind. Über blecherne Megafon-Lautsprecher am Bühnenrand – wohl als Reminiszenz an die revolutionären Momente 1989 gedacht – spult sich folglich das verbale Geschehen ebenso blechern ab. Vielleicht soll die maschinelle Unterstützung auch die schlechten Leistungen der meisten Mimen kaschieren? Möglicherweise kommen deshalb auch so viele Videoprojektionen zum Einsatz? Jedenfalls erlebt das Schauspiel im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit auf dieser Bühne keinen Gewinn.
Wenn Dannemann den Blick vom Individuum Hamlet ein Stück weit weg lenkt und die ganze Clique als Gesellschaft in den Blick nimmt, ist das konsequent. Daher mag er seine Hamlet-Figur (Felix Kramer) auch so schwach ausgestaltet haben. In ein, zwei starken Momenten wirkt dieser auch wie ein wandernder Exilant, der sich von einer existenzialistischen Situation in die nächste Krise, den nächsten Panikraum schleppt. Während der Rest nur blafft und gafft. Doch dieser Ansatz rutscht alsbald aus den Fugen, wenn sich zur Misere der schauspielerischen Qualitäten noch die Tristesse eilfertiger Regieeinfälle gesellt. Beim Meditieren übers Sein und das Nichts dominiert hier eindeutig zweites. Wenn Ophelia ins Wasser geht, erscheint ihr Kopf mit Schnorchel in einem Aquarium. Was sie sagt, ist unverständlich, aber das Publikum wird doch wohl textsicher sein? Dass nicht jeder die stellenweise im Hintergrund laufenden Videoprojektionen sehen kann, macht da auch nichts. Es erschließt sich ohnehin nicht, was Havel, Ceausescu und Erdogan hier konkret zu suchen haben – ebenso wie unmotivierte Salafisten-Anspielungen und ein bisschen Revolutionskitsch marschierender 89-Demos. Wenn nach einem solchen schlecht zusammengestoppelten komatösen Mosaik schlussendlich die Puppe aus der „Saw“-Horrorfilm-Reihe im Dreirad vorfährt, um den finalen Aderlass einzuleiten, ist der gewollte Tabubruch schon abzusehen. (Gewiss, in den Filmen geht es auch um existenzielle, weil von einem Psychopaten erdachte tödliche Situationen.) Nicht jeder Zuschauer verfügt über Splatter-Sehgewohnheiten. Aber während die Schauspieler in der ausgedehnten Gewaltorgie ausbluten, schleicht sich das Gefühl ein, dass mehr Zeit, Muße und Geschick in die Produktion des Clips geflossen sind, als Dannemann und die Seinen für die Gesamtinszenierung aufgebracht haben. Wohlmeinende mögen diesen Spielzeitauftakt „polarisierend“ nennen, der aber nicht anders als platt zu nennen ist.