Foto: Blutsauger und die Musikerin Inéz © Krafft Angerer
Text:Ulrike Kolter, am 9. September 2023
Am Hamburger Thalia Theater inszeniert Christopher Rüping den Skandalroman des Jahres: Benjamin von Stuckrad-Barres „Noch wach?” wird zur grotesken Vampir-Show mit Live-Musik und einem grandiosen Ensemble.
Wie gegenwärtig Theater doch sein kann. Erst im April war Benjamin von Stuckrad-Barres Roman „Noch wach?“ bei Kiepenheuer & Witsch erschienen, noch nicht mal die Lesereise des nimmermüden Autors ist beendet. Keine fünf Monate später bringt das Hamburger Thalia Theater schon die Uraufführung des medial gehypten Schlüsselromans auf die Bühne. Als gut dreistündige Bühnenshow von vier Schauspielerinnen, zwei Schauspielern und Live-Musik – und keine Minute davon gerät zu lang.
Der Plot: #MeToo in Hollywood und Berlin
Das nicht nur, weil man so gern im humorvoll-illustrativen Staccato-Sprachmeer Stuckrad-Barres badet. Sondern auch, weil Regisseur Christopher Rüping aus den 373 Seiten eine bühnentaugliche Textfassung extrahiert hat. Nah am Buch, konzentriert auf die Dialoge, sparsamer hingegen bei den eher langwierigen Szenen in Los Angeles, am Pool des legendären Hotels Chateau Marmont, in das der Ich-Erzähler des Romans – natürlich ein Schriftsteller – zwecks Realitätsflucht vorm nassdunklen Berliner Fünfmonatswinter gern flieht. Eskapismus unterm Zitronenbaum, während in Hollywood die dunklen Wolken von Trump, Weinstein und #MeToo aufziehen.
Kern des Plots ist die Männer-Freundschaft dieses Schriftstellers zum Chef eines großen Berliner Medienhauses, die zerbrechen muss, weil dieser „Freund“ (Hans Löw) tatenlos zusieht, wie zahllose Mitarbeiterinnen seines Senders dem Anmachgebaren eines einzelnen Chefredakteurs ausgeliefert sind. Sexuelle Kooperation gegen Karrierefortschritt heißt die Devise, gegen die sich weiblicher Widerstand regt. Zurück aus LA lernt eben jener Schriftsteller die junge Sophia in einer Selbsthilfegruppe kennen, die mit feministischer Überzeugung für den Sender arbeitet – anfangs noch profitiert, bald aber selbst zum Spielball des Chefredakteurs wird. Ein angestrebtes Compliance-Verfahren wird zur Farce und erneuten Machtdemonstration des Senders…
Maike Knirsch als Sophia. Foto: Krafft Angerer
Die Inszenierung: fluide Sprecherwechsel
Auch Stuckrad-Barres „Panikherz“ hatte Christopher Rüping am Thalia mit geballter Textwucht inszeniert (2018). Und wie damals splittet er in „Noch wach?“ den Ich-Erzähler auf in mehrere Darsteller:innen: Cathérine Seifert, Oda Thormeyer, Julia Riedler und Nils Kahnwald sprechen fluide im Wechsel mit Maike Knirsch, die als Sophia den gigantischen Energielevel des Abends noch befeuert. Die Aufsplittung ist unterhaltsam, macht den Textrausch gut konsumabel, vor allem aber bringt sie Distanz zur Hauptfigur und den Geschehnissen im Sender.
Denn natürlich ist – trotz fiktionaler Schutzhülle – die Analogie zu Stuckrad-Barres Freundschaft mit Springer-CEO Matthias Döpfner und dem Ex-Bild-Chefredakteur Julian Reichelt offenkundig. Und Humor ein probates Mittel, den Tragödien dieser Welt zu begegnen.
Und so bevölkert zu Falcos Song „Out oft the Dark“ eine Horde Vampire die Bühne (Peter Baur) und aus Särgen neben einem riesigen Vampirschloss entsteigt der Senderchef als Dracula, heult gelegentlich vom Balkon aus den Vollmond im Bühnenhimmel an, gibt sich ansonsten aber als die Unschuld in Persona. Medien- und Machtmissbrauch blutsaugender Männer: grotesk gut. Die Hotel-Parallelwelt in LA ist derweil nur ein aufblasbarer Kinderpool mit Silberpalme, der vor und nach Stückbeginn vorm Eisernen postiert ist – und dem ganzen Luxusproblemleben der Silberbekleideten jede Ernsthaftigkeit nimmt (Kostüme: Lene Schwind). Auch die Kurzauftritte des Chefredakteurs selbst sind zur Lachnummer stilisiert: Nils Kahnwald gibt ihn rosabehemdet und peinlich naiv. „Mir reichelts“ – soviel Wortspiel muss sein.
Vampirschloss statt Medienturm. Foto: Krafft Angerer
Die stärksten Momente
Stark wird der Abend vor allem in den Szenen mit Live-Musik von Matze Pröllochs (Schlagzeug) und Inéz (Gesang), und besonders dann, wenn echtes Dialogspiel entsteht: Großartig, wie Nils Kahnwald und Hans Löw zu „Keep on Dancing“ im Dauerregen tanzen, sich suhlen und umarmen. Zerbrechende Freundschaft schmerzt eben, so fehlbar der Mensch auch ist. Und genau in solchen Momenten liegt die Kraft von Rüpings Inszenierung, wenn sie ihre Figuren nahbar zeichnet wie hier.
Männerfreundschaft im Regentanz: Nils Kahnwald (hängend) und Hans Löw. Foto: Krafft Angerer
So fatalistisch wie der Roman lässt Rüping den Abend nicht enden, dafür mit einer Video-Reizüberflutung, die an die Nieren geht. So wie alles, was dieses – rein fiktive – Medienhaus täglich in die Welt ausspeit. Zu viel Farce das alles? Vielleicht. Dafür ein überwältigender Theaterabend zum Heulen.