Foto: Carmen (Anneke Schwabe) © Kerstin Schomburg
Text:Sören Ingwersen, am 15. November 2024
Das Regie-Duo Peter Jordan und Leonhard Koppelmann zeigen am Hamburger St. Pauli Theater „Carmen von St. Pauli” als Carmen, die in den 1920er Jahren spielt. Eine gelungene Revue mit allem, was dazugehört.
Wenn man George Bizets Männerherzen verglühende Carmen aus der südspanischen Stadt Sevilla an die Hamburger Waterkant holt, sieht manch einer im Vorfeld womöglich dunkle Wolken aufziehen. Ist die berühmte Opernfigur in ihrem unbändigen Streben nach Selbstbestimmtheit nicht ein „rebellischer Vogel“ – wie sie selber singt –, der nur unter der gleißenden Sonne Andalusiens seinen Schwingen ausbreiten kann? Doch Klischees laden dazu ein, gebrochen zu werden – und wer hatte dafür ein feineres Händchen als das erfolgsverwöhnte Regie-Duo Peter Jordan und Leonhard Koppelmann, das im letzten Jahr am Hamburger St. Pauli Theater schon Kurt Weills „Dreigroschenoper“ zeitgemäß aufpolierte?
Die Idee aus einem Stummfilm
Die neue Spielwiese der „Carmen von St. Pauli“ ist die Hamburger Reeperbahn, auf der Ende der 1920er-Jahre Huren, Schmugglerbanden, Unterweltskönige und auch schon Hitlers SA-Schergen aufeinandertreffen. Diese Idee stammt nicht von Jordan und Koppelmann, die gemeinsam einen herrlich pointierten, überaus witzigen Theatertext geschrieben haben, sondern geht auf den gleichnamigen Stummfilm von Erich Waschneck aus dem Jahr 1928 zurück.
Dessen Bilder begleiten im Hintergrund diese wilde, kurzweilige Revue mit Bizets schmissiger Musik, die von Matthias Stötzel und Uwe Granitza so stilecht für eine achtköpfige Jazzband eingerichtet wurde, als hätte der Komponist des Originals niemals eine andere Besetzung im Sinn gehabt. Zwanzigerjahre-Chanson, New-Orleans-Jazz und Anklänge an Kurt Weills Musiktheater gepaart mit schwungvollen Tanznummern und eine Prise Travestie vermengen sich zu schönstem Vaudeville.
Famoses 14-köpfiges Ensemble
Mehr als nur das i-Tüpfelchen auf diesem rundum gelungenen Premieren-Abend ist das bestens aufgelegte 14-köpfige Ensemble. Als Jenny Hummel alias Carmen knetet Anneke Schwabe sich mit vorgetäuschten Gefühlen ihre Liebhaber zurecht. Allen voran den mittellosen Hafenarbeiter Klaus Brandt (Holger Dexne), der – weil einfach zu gut für diese Welt – von allen ausgenutzt wird und am Ende als rachedurstiger Anführer der Gaunerbande „Die Hafenratten“ über sich hinauswächst. Widerlich bis in die blond gefärbten Haarspitzen gebärdet sich Brandts Gegenspieler, der skrupellose Reeder Fritz Rasmussen, dessen teuflische Natur von Götz Otto lustvoll ins Groteske überzeichnet wird.
Eine Freude ist es auch, Nadja Petri dabei zuzusehen, wie sie zunächst als Brandts biedere Verlobte den Chor der Heilsarmee dirigiert, um später – zutiefst verletzt durch Klaus’ Gefühle für Carmen – zur männerverschlingenden Furie zu mutierten. Auch Patrick Heyn leidet als verliebter Hafenmeister Hansen unter Carmens neuer Liaison und erntet für seinen genüsslich ausgespielten Nervenzusammenbruch Szenenapplaus, während der geschäftstüchtige Schankwirt Pastia (Stephan Schad) alle Hände voll zu tun hat, damit in seiner Hafenkneipe – dem Hauptschauplatz des Stücks – die Dinge nicht vollends aus dem Ruder laufen.
Am Ende kommt es dann zum Showdown mit Degen und Pistole. Allerdings mit anderem Ausgang als bei Bizet. Und mit der augenzwinkernden Botschaft, dass das Theater – sofern es so vor Leben sprudelt, wie an diesem Abend – auch den Tod überlisten kann.