Von der Realität eingeholt

Gordon Kampe: Die Kreide im Mund des Wolfs

Theater:Staatsoper Hamburg, Premiere:25.01.2025 (UA)Autor(in) der Vorlage:Dieter SperlRegie:Georges DelnonMusikalische Leitung:Tim Anderson

Gordon Kampes Mono-Oper „Die Kreide im Mund des Wolfs” verbindet Versatzstücke aus den Reden Wladimir Putins zu einem Zerrbild zwanghafter Machtbesessenheit. Nach der Urauffühung an der Hamburger Opera Stabile bleibt die Frage: Was kann Kunst hier noch entlarven?

Hat Wladimir Putin einen Putzfimmel? Man weiß ja, dass einsame Menschen oft zu Hygieneexzessen neigen. In der Opera Stabile, der Studiobühne der Staatsoper Hamburg, wischt der österreichische Bariton Georg Nigl den Boden rund um den Nachbau des sechs Meter langen, glänzend-weißen Konferenztisches, mit dem der russische Präsident seine Staatsgäste auf Abstand hält. Er säubert penibel die Sitz- und Griffflächen beider Stühle, bevor er sich setzt und 90 Minuten lang ganz in der Rolle des Kremlchefs aufgeht.

Die Uraufführung von Gordon Kampes Mono-Oper „Die Kreide im Mund des Wolfs“ mit einem Text von Dieter Sperl „nach den Worten einen Präsidenten“ basiert auf öffentlichen Reden Wladimir Putins, in denen er sich dem Westen gegenüber anbiedert, die Herrlichkeit Russlands preist, politische Floskeln drescht oder seinen Gegnern offen droht. Mit weiß geschminktem Gesicht – halb Mephisto, halb Clown – fesselt Nigl das Publikum als janusköpfiger Staatsmann mit famosem Ausdrucksrepertoire. Er flüstert verschwörerisch, geifert wie ein cholerischer Rachegott, verlängert den Buchstaben R zu einer Maschinengewehrsalve, um im nächsten Moment eine süßliche Melodie zu säuseln oder sich über seine zuvor staatsmännisch nüchtern hervorgebrachten Worte kaputtzulachen, weil er selbst nicht an sie glaubt. Als er davon spricht, „zivilisierte, gutnachbarschaftliche Beziehungen“ aufbauen zu wollen, bleibt ihm die „Zivilisation“ buchstäblich im Halse stecken, bis das Wort nach gefühlt hundert Versuchen endlich halbwegs verständlich hervorgepresst wird. Die Liebe zu seiner Heimat bekräftigt der Präsident im Ton einer stimmlich aufgeblähten russischen Volksweise, während er sich dabei vor sexueller Erregung kaum auf dem Stuhl halten kann.

Szenische Einrichtung über die Angst eines Diktators

Das achtköpfige Ensemble mit zwei Klavieren, Harfe, Streichern, Bläsern und Schlagwerk unter der Leitung von Tim Anderson lotet dazu musikalisch die oft überraschend kurzen Wege zwischen Neuer Musik, ausladender Operngeste, populären Tanzrhythmen und brachialen Entladungen aus. Zwischendurch schweigen die Instrumente, ein Telefon klingelt, ein Kabel an der Wand glüht zischend auf, man hört Schritte, es tropft auf den Tisch. Die Angst des Diktators entzündet sich am Alltäglichen – auch davon erzählt die szenische Einrichtung dieses „Musiktheaters für Stimme und Ensemble“ durch Opernintendant Georges Delnon.

Einige erinnern sich sicher noch an Bernhard Langs an der Staatsoper Hamburg uraufgeführte Mono-Oper „Playing Trump“ im Jahr 2021, zu der ebenfalls Dieter Sperl das Libretto schrieb, nach Zitaten des damaligen und jetzt wieder aktuellen US-Präsidenten. Wie bei „Die Kreide im Mund des Wolfs“ wollten Autor und Komponist auch damals nicht einen bestimmten Präsidenten porträtieren, sondern zeigen, wie Sprache ein politisches und kulturelles System okkupiert und freiheitliche Kommunikationsformen unterläuft. Die Folie Trump erwies sich dafür als geeignet, weil dessen von stereotypischen Tiraden aufgeblähte Ich-Darsteller-Attitüde die verbindliche Inhaltsebene von vornherein kollabieren lässt und die Musik sich ganz auf Ausdruck und Oberfläche konzentrieren kann.

Die Realität ins Groteske ziehen

Putins Reden hingegen sind klassischer angelegt. Hier kann man die Lüge und die perfide Doppelzüngigkeit noch als solche enthüllen, weil sie nicht offen zutage liegt, sondern sich hinter einer mehr oder weniger raffinierten Rhetorik verbirgt. So muss Kampes Oper das Gesagte konterkarieren, ins Groteske ziehen, bedrohlich unterstreichen. Das alles sind erlaubte und wirkungsvolle Stilmittel. Es fragt sich nur, ob das Theater vor dem Hintergrund des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine die bizarren Allmachtsfantasien des realen Despoten noch überzeichnen kann und muss beziehungsweise, was es hier noch zu entlarven gibt. Die historische Entwicklung – so scheint es – hat hier die Kunst längst eingeholt und übertroffen.