Foto: Lina Beckmann und Liina Magnea © Lalo Jodlbauer
Text:Dagmar Ellen Fischer, am 13. März 2025
Am Deutschen Schauspielhaus Hamburg zeigt Karin Henkel „Die Abweichlerin” nach Tove Ditlevsens letztem Roman „Vilhelms Zimmer“. Im Mittelpunkt: Lina Beckmann, wandlungsfähiger denn je.
„Es gibt mehr Grund zur Trauer über mein Leben als über meinen Tod“, schreibt Tove Ditlevsen in ihrem Abschiedsbrief, bevor sie Anfang März 1976 eine Überdosis Schlaftabletten nimmt. Dieser Suizid gelingt, der letzte in einer Reihe verzweifelter Versuche der dänischen Schriftstellerin.
In Karin Henkels Inszenierung spricht Lina Beckmann als Tove Ditlevsen diesen Satz in der entsprechenden letzten Szene. Und: „Weil es diesmal ernst ist!” Ein vorletzter Selbstmordversuch war nur knapp zwei Jahre her. Dazwischen entstand ihr letzter Roman „Vilhelms Zimmer“. Diese (gekürzte) Textvorlage, biografisches Wissen und Kommentare in Richtung Publikum verwebt die Regisseurin zu einer Fassung aus mehreren sprachlichen Ebenen, die über pausenlose zwei Stunden und zwanzig Minuten hinweg fesseln. Im Mittelpunkt: Lina Beckmann in mehreren Rollen, wandlungsfähiger denn je.
Lina Beckmann als Tove und literarisches Alter Ego
Sie verkörpert Tove und deren literarisches Alter Ego, Lise, die vom Scheitern ihrer Ehe mit Vilhelm erzählt, Toves viertem Ehemann im wahren Leben nachempfunden. „Vilhelms Zimmer“ ist leer, er verließ Lise für eine Jüngere. Kurzerhand sucht sich die Verlassene einen neuen Mitbewohner, der sich indes mit dem Sohn und der Haushälterin arrangieren muss – das ergibt ein zusammengewürfeltes Zweck-Arrangement gründlich Gestörter. In Rückblenden tauchen Szenen aus der Kindheit und Toves zahlreichen, biografisch überlieferten Aufenthalten in Nervenheilanstalten auf. Hier springt Lina Beckmann mal eben in die Rolle einer Mitpatientin, in einer anderen Szene verwandelt sie sich mit Maske in den (ebenfalls wunderlichen) Gatten der Haushälterin.
Zum Zeitpunkt ihres Suizids Mitte der 1970er Jahre war Tove Ditlevsen auf dem Höhepunkt ihrer Popularität, von den überwiegend weiblichen Leserinnen wurde sie als „Die Abweichlerin“ wahrgenommen: Gesellschaftliche Normen brachten sie in permanente Abhängigkeit – von Eltern, Chefs und Ehemännern, später kamen Tabletten und Alkohol hinzu – , gegen die sie sich bis zur Erschöpfung auflehnte. Karin Henkels Regiearbeit zeigt verschiedenste Facetten einer Frau, der es zwar gelingt, ihren Traum zu verwirklichen und „Dichterin zu werden“, die dafür jedoch einen verdammt hohen Preis zahlen muss: Nur während der Aufenthalte in Kliniken hat sie die nötige Ruhe zu schreiben.
Die Strippenzieherin
Lina Beckmann schubst, kippt, dreht und arrangiert die Menschen um sie herum wie eine Strippenzieherin – so selbstermächtigt, wie Tove nie wirklich war. Ihren Mitbewohner (sensationell: Mirco Kreibich) degradiert sie zum zweiten Sohn, ihren tatsächlich heranwachsenden Sohn (Daniel Hövels) zum Kind. Matti Krause übernimmt die beiden Rollen der grobschlächtigen Nachbarin sowie der Haushälterin, die sich in Toves Leben unentbehrlich macht, Linn Reusse spielt Vilhelms Geliebte. Alle sprechen von sich in der dritten Person, nur als Tove ist Lina Beckmann hin und wieder die Ich-Erzählerin.
Fallstricke durchkreuzen den gesamten Bühnenraum, somit die enge Welt der Tove Ditlevsen von Anfang an (Bühne: Barbara Ehnes). Wenig herzeigbar nannte ihre Mutter sie schon als Kind; um erste Texte veröffentlichen zu dürfen, musste sie sexuelle Übergriffe ertragen. Sie ist 58 Jahre alt, als sie den Freitod wählt. Trotz des tragischen Lebens, das sich auf der Bühne differenziert auffächert, blitzt immer wieder schelmischer Humor auf: in pointierten Sätzen und in den Augen Lina Beckmanns. Ein faszinierender Abend.