Foto: "Wilde" bei den Schwitziger Festspielen © Hans Jörg Michel
Text:Frieder Reininghaus, am 25. Mai 2015
Mit kulturellen Markenzeichen des heißen Temperaments kokettierten seit dem späten 19. Jahrhundert etliche Katalanen. Dies führte zu überwiegend positiven Erwartungshaltungen in gemäßigteren Zonen Europas. Für die Produktion „Wilde“ bei den Festspielen in Schwetzingen spannte der dort fürs Musiktheater zuständige Basler Intendant Georges Delnon mit Hèctor Parra und Calixto Bieito gleich zwei Katalanen zusammen.
Auf den aus Barcelona stammenden alterslosen Komponisten machte die Münchener Biennale im vergangenen Jahr durch die Oper „Das geopferte Leben“ aufmerksam. Parra erhielt u.a. Fortbildung bei Brian Ferneyhough und von Jonathan Harvey, also beim Meister des „Komplexismus“ (der freilich halb so wild wie schlimm ist) und bei einem stark religiös erweckten britischen Kompositionslehrer (der selbst eine Verbindung von retrospektiver vokaler Schlichtheit und mystischer Sanftmut pflegte). Tatsächlich glaubt man schon bei der Ouverture zu hören, dass diese beiden konträren Vektoren des Tongemenges bei „Wilde“ im Widerstreit lägen; zugleich, dass der Wille zu kompositorisch Neuem durch vielerlei Bezugnahme auf historisches „Material“ im Zaum gehalten würde. Wenn es Nacht wird, scheint die Schumannsche Verklärung von Eichendorffs „Mondnacht“ auf.
Die kalligraphisch ausgeführte Partitur widmet sich einer scheinbar alltäglichen Handlung. Die entwickelt in Zeiten von Piloten- und Lokführerstreiks durchaus Plausibilität: Händl Klaus ließ in seinem Drama den aus den Lebensfugen geratenen und von schlimmen Erinnerungen geplagten Gunter aus Bleibach am Provinzbahnhof von Neumünster an der Lau stranden (Ekkehard Abele stellt ihn nachdenklich vor und singt seine Partie mit unterschwelliger Erregung und höchster Verve). Mühsam schleppt der Lungenarzt seinen riesigen Metallic-Koffer mit verdorbenem Verbandsmaterial bis zu einer Baustelle. Die ragt über den Orchestergraben hinweg drei Stockwerke hoch auf und erinnert an die Zeiten, in denen noch vor Ort von Hand eingeschalt und angemischt wurde.
Gunter gerät in der trotz fehlender Wände klaustrophobischen Installation mit den intransigenten Gebrüdern Flick aneinander und setzt sich notgedrungen mit dem Sinn seines bislang grenzenlosen Lebens auseinander, kommt dann auf noch surrealistischere Weise mit den drei Flick-Schwestern zusammen. Sie locken mit ihren auch hinsichtlich moderner Schreibweisen trainierten Stimmen wie Sirenen (für sie konnte sich kompositorische Wollust austoben). Die in ein leicht abzulegendes Blumenkleid und blutgetränkte Unterwäsche gesteckte Ältesten – Mireille Lebel – ist mit ihrer unter kanadischer Kühle lauernden Laszivität als erste dran. Doch Amarisol Montalvo, die südländisch-temperamentvolle Alternative, erhöht das Angebot der Reize ebenso wie Lini Gong mit süß-sauer-superschar-fem Sopran. Das Damentrio sorgt für mancherlei musikhistorischen Konnotationen („Zauberflöte“! „Rheintöchter“! „Trois Oranges“!), setzt die vokalen Glanzpunkte und verschafft Gunter musikalisches Bleiberecht.
Calixto Bieito offeriert bei reduzierter Gewaltförmigkeit und eher zurückhaltend ausgefertigten Sex-Szenen ein nicht überwürztes, mit wohl kalkulierten Reizen prunkendes Theater. Das Text-Staccato spült viel Unverständliches mit sich und manche szenische Wendung soll nicht nachvollziehbar bleiben. Kein Grund zur Aufregung also. Schwetzingen knüpfte mit dieser Uraufführung an Konversationsstücken wie den „Gestiefelten Kater“ von Günter Bialas (1975) oder der „Englischen Katze“ von Henze (1983) an, die im Rokokotheater auch schon schnurrend für schönen Zeitvertreib sorgten.