Foto: Humperdincks Oper "Hänsel und Gretel" am Staatstheater Nürnberg. Michaela Maria Mayer, Silvia de La Muela
© Jutta Missbach
Text:Dieter Stoll, am 3. November 2014
Engelbert Humperdinck Hänsel und Gretel Staatstheater Nürnberg Andreas Baesler Guido Johannes Rumstadt DIE DEUTSCHE BÜHNE Dieter Stoll
Die Ouvertüre gehört in Andreas Baeslers Nürnberger Inszenierung von „Hänsel und Gretel“ dem Gerichtsvollzieher: Während aus dem Orchestergraben die ersten Motiv-Proben von Abendsegen und Hexenritt anschwellen, lässt der Beamte gnadenlos die Wertsachen aus der Villa Besenbinder abtransportieren. Ein großes Porträt von Richard Wagner gehört zur Konkursmasse, was als ironischer Schlenker der Regie ganz gut tut, aber als Hinweis für den Dirigenten Guido Johannes Rumstadt leider gar nicht funktioniert. Zunächst staunt der Zuschauer, wie die „bittere Armut“ des streng nach deutscher Sitte geführten Haushalts „nur Wasser zum Trank“ hat, im Gegensatz zum Original jedoch eine Gouvernante für die Kinder. Das erklärt sich schnell, denn die böse Schwester von Mary Poppins reinigt den Salon mit Reißigbesen und hinkt außerdem – die Knusperhexe lebt also in Festanstellung. Muss sie auch, denn eigentlich verlassen die beiden „Kinderchen/Sünderchen“ das Elternhaus gar nicht, sie erleben nur einen Albtraum mit Kulissenschiebung. Das „Märchenspiel in drei Bildern“ wird zur Psycho-Homestory aufgebockt, daheim ist es gruselig genug.
Bis zum letzten Hokuspokus-Bild am Knusperhäuchen, wo zuvor das Dach vom Haus fliegt und man den Wald vor lauter Christbäumen kaum sieht, findet alles in geschlossener Gesellschaft statt. Hänsel und Gretel machen Puppenspiel mit Tänzchen und warten auf die Gutenachtgeschichte zum Horror-Auftakt. Dann ist es soweit: Die Kinder verlaufen sich im Wald, sie gehen also auf überschaubaren Quadratmetern von einem Zimmer zum zweiten mit dem Satz „Gretel, ich weiß den Weg nicht mehr“. Der allseits geliebte Abendsegen taugt in dieser Produktion des Spielplan-Evergreens als Nürnberger Fallstudie über Opern-Entwicklungen. Marschierten bei der vorletzten Inszenierung noch ganz naiv 14 Duplikate des Rauschgold-Christkinds vom nahen Weihnachtsmarkt als betende Sandmännchen-Vollstrecker auf, forderten zuletzt die lebensgroßen Teddy-Bären des Künstlers Peter Angermann mit Bettenservice und Nachttischlämpchen wunderbar den Humor der Opernfreunde heraus. Diesmal tauchen gepuderte Rokoko-Gespenster (von Kostümbilderin Gabriele Heimann im liebevoll verschnörkelten Ahnen-Design ausgestattet) im Halbkreis bei den Schlafenden auf und überreichen im Zombie-Kollektiv das Lebkuchenhaus als handliches Nasch-Modell. Fürs Feuerloch zum späteren Hurra-Tod der Rosine Leckermaul steht ohnehin der in der Warm-Miete inbegriffene Kachelofen bereit. Wenn die Hexe darin explodiert ist, kommen die Lebkuchenkinder mit Umhänge-Herzen ins Leben zurück, wo sie – unbefangen von der Traumwelt in die Realität wechselnd – zu Füßen von Papa Besenbinders Lehnstuhl weitere Märchen in Serie hören dürfen, bis das Fernsehen erfunden wird.
Andreas Baeslers Inszenierung setzt schwarze Romantik gegen die Betthupferl-Poesie, bekämpft die latente Betulichkeit im Wechselbad von Kinderlied und Pauschal-Mystik mit der Behauptung von Tiefenpsychologie. Dabei verheddert sie sich in der eigenen Logik, die nicht erklären mag, wo der Traum beginnt und ob er überhaupt endet. Sie lässt im eher konstruierten als inspirierten Bühnenbild von Harald B. Thor und Andreas Wilkens die Eltern wie einen verarmten Zweig der Buddenbrooks erscheinen, führt Theater-Luftnummern mal mit Taumännchen und mal mit Hexe im Sicherheitsgurt vor. Beim Titel-Paar lässt die Personenregie die Standards von gerne „goldig“ genannter Opern-Kindlichkeit unangetastet.
Von den Stimmen her war die Premiere „groß“ besetzt: Erste Mannschaft durch und durch. Papa und Tochter (Jochen Kupfer, Michaela Maria Mayer) sind sich schon als Beckmesser und Evchen in den „Meistersingern“ begegnet, die Mama-Matrone (Ekaterina Godovanets) war kürzlich Sieglinde in der gleichen „Walküre“ wo die Hexe (Leila Pfister) als Waltraute auftrat. Der Mezzo-Hänsel des neuen Ensemblemitglieds Silvia de La Muela setzt sich am besten durch. Denn entspannt können die Wagner-Sänger mit Humperdincks Orchesterstürmen selten umgehen. Dirigent Guido Johannes Rumstadt hatte schon bei der Einführung die Probleme der akustischen Balance thematisiert und blieb dann, da half die Entfernung des Wagner-Porträts nichts, zwei Stunden in Kampfposition. Zwischen feinfühlig ausgepinselten Lyrismen, die wunderschöne Momentaufnahmen brachten, ließ er brachialgewaltige Wellenschläge aus dem Staatsphilharmonie-Graben über alles hinweg donnern, jeden Lebkuchen-Bruch zur kleinen Götterdämmerung hochstapeln. Die herzhaft einsteigenden Sänger wirkten da zeitweilig so angestrengt wie die Zuschauer, die beim hilfesuchenden Blick auf die schwülstigen Übertitel auch nicht recht glücklich werden konnten.
Am Ende, wenn das Dach wieder ordentlich wie ein Deckel auf dem Haus sitzt und die Gouvernante samt bösem Ordnungs-Blick aus dem Ofen zurück zur Raumpflege heimgekehrt ist, wird alles gut. Oder zumindest berechenbar. Der nächste Albtraum kann kommen.