Foto: Szene aus "Sale" an der Oper Zürich. © Toni Suter + Tanja Dorendorf
Text:Joachim Lange, am 5. November 2012
Wenn der Schweizer Theaterkautz Christoph Marthaler Georg Friedrich Händel inszeniert, dann kommt natürlich ein ganz eigenes Stück dabei heraus. Da buchstabiert er nicht den Wechsel von Arien und Rezitativen einer Oper durch, da sucht er sich, ganz in der barocken Pasticcio-Tradition, seinen eigenen Händel zusammen. Arien aus acht Opern (von Alcina bis Orlando) und acht Oratorien (von Saul bis Messiah), dazu zwei Instrumentalsätze und kurz vorm Ende die Ouvertüre zur Feuerwerksmusik. Und fertig ist Marthalers Händel.
Wenn Anna Viebrock dazu den Raum baut, dann wird dabei wie immer etwas Vertrautes neu erfunden. Sie bietet allemal eine Zeitreise mit Irritationen, einen Balanceakt zwischen der Banalität eines Déjà-vu und ein Blick hinter die bürgerliche Fassade samt wohligem Rückschauer bei der mitschwingenden Erkenntnis, wie nah wir alle dem Abgrund sind. Was unmissverständlich klar wird, wenn der grandiose Marthaler-Schauspieler Graham F. Valentine in der Rolle eines „nahen englischsprachigen Verwandten“ auch noch Passagen von Edgar Ellen Poes „Die Maske des Roten Todes“ dazwischen schnarrt, in der sich eine Gesellschaft vor der Pest abschottet und ihr dann doch erliegt. Bei Marthaler bleibt das dennoch stets pures Theatervergnügen. Und hochmusikalisch obendrein. Mit einem melancholischen Grundton, wie schon bei seiner Verdi-Variation oder der Großherzogin von Gerolstein im benachbarten Basel.
Für den neuen, von der Komischen Oper Berlin kommenden Andreas Homoki ist es die zweite Neuproduktion, seit er den Intendantenposten in Zürich übernommen hat. Dass Marthaler hier in Zürich erst der begehrte, dann der mehr oder weniger rausgeekelte Schauspielchef war, daran erinnerten wohl die energischen Buh-Rufer, als er vor den Vorhang trat. Doch die gehen in der allgemeinen Zustimmung unter. Schlicht und einfach „Sale“ heißt dieses erste Marthaler-Projekt für das Opernhaus in Zürich. Was zu gut deutsch Ausverkauf bedeutet, mal als Schlussverkauf angefangen hat, heute ein nervender Werbedauerzustand ist und auch schon Mal das ganze Kaufhaus betreffen kann. Die kongeniale Raum- und Welterfinderin Anna Viebrock hat diesmal also eine Kaufhausetage auf die Bühne gesetzt. Mit Regalen, Wühltheken, Rolltreppen, einer Kasse und mit einem Oberlicht an das der Regen trommelt. Mit dem wunderbar grässlichen Muster des Teppichbodens, ist eine Art corporate identity vorgegeben, die sich in den Kostümen wiederfindet. Bis hin zum Hemd des Dirigenten.
Am Pult des Orchestra La Scintilla (dem historisch aufgerüsteten Teil des Zürcher Opernorchesters) steht mit Laurence Cummings der neue Chef der Göttinger Händelfestspiele, vor allem aber ein undogmatischer Barockspezialist am Pult, der sich auf Marthalers verschroben kreative Musikalität einlässt. Und obendrein auch noch singen kann. Mitten im Stück dreht er sich kurzerhand zum Publikum und singt das „Comfort ye my people“ aus dem Messiah. Vor allem aber bietet er mit dem Orchester zwei Stunden Händel pur, mit feinstem Originalklangaroma, Sinnlichkeit und dramatischem Furor.
Die – wie immer bei Marthaler-Stücken – freischwebende Geschichte erschließt sich über die Benennung des Personals: Anne Sophie von Otter ist die Dynastie-Chefin und Kaufhausdirektorin. Mit Würde versteht sich, ihrem griffbereiten Gläschen und einer ganzen Bagage von Verwandten am Hals, die auftauchen, als es dem Kaufhaus, das mal bessere Tage gesehen hat, an den Kragen geht und Liquidator Bernhard Landau schon die Schlussbestände notiert. Marc Bodnar geistert als verstorbener dritter Ehemann durch die Szene. Raphael Clamer ist der smarte unehelicher Sohn und Filialleiter. Weiter gibt es die Nichte (koloraturgeschmeidig: Malin Hartelius), den Großneffen (als sportiver Counter-Glücksgriff: Christophe Dumaux), eine norwegisch-amerikanische (Tora Augestad) und noch eine ausgewanderte Verwandte (Catriona Guggenbühl) samt Ehemann (Ueli Jäggi ist der Typ im Trenchcoat, der immer singen will und nie dazu kommt). Niemanden wundert es, dass zur dieser Verwandtschaft auch noch einen Witwenimitator (Jürg Kienberger) gehört.
Sie alle finden sich zu einer Beerdigung ihre Vergangenheit und der alten Träume von der schönen bunten Kaufhaus-Warenwelt im Billigformat. Nur zweimal stürmen die Schnäppchenjäger herein und balgen sich um die letzten Sonderangebote. Sonst bleibt man unter sich. Findet nicht mehr heraus – wie die Festgesellschaft in Bunuels Würgeengel. Ist dem Untergang geweiht, wie in Edgar Allan Poes Geschichte. Und alles klingt wie Händel. Unendlich traurig und unendlich schon. Wenn sie alle nacheinander ein Dosier-Schippchen Waschpulver hinter den Tresen schütten und sich dann selbst wie tot auf den Boden legen, ist das urkomisch und tieftraurig zugleich. Das überdreht fröhliche Festmahl zur Feuerwerksmusik am Ende dann ist nur ein surrealer Traum. Das letzte Wort behält eine Trauermusik (aus Saul). Und die klingt von Ferne wie aus einer anderen Welt. „Sale“ stürzt gewiss keine der Marthaler- oder Viebrock-Gewissheiten um. Doch die Oper Zürich kann sich mit einem melancholisch heiteren Händel der etwas anderen Art schmücken.