Foto: Szene aus "Orest" in Amsterdam. © Hermann & Clärchen Baus
Text:Joachim Lange, am 12. Dezember 2011
Mag sein, dass unsere Zeit den großen Stoffen und dem hohen Ton günstig ist. Selbst wenn es nur die Sehnsucht nach etwas Tiefgang bei all dem herrschenden Triumph der Oberfläche ist. Nachdem Wolfgang Rihm in Salzburg mit seinem „Dionysos“ einen durchschlagenden Erfolg hatte, zog mit Manfred Trojahn jetzt der zweite deutsche Komponist am Het Muziektheater in Amsterdam nach. (Zu beiden könnten der alte Hans-Werner Henze sagen: seht Ihr, wie Recht ich hatte mit meinen Bassariden!)
Trojahn hat zu seiner Variante der Orest-Geschichte das Libretto selbst verfasst, sich dabei nicht nur gegen das Vorgängerstück im Geiste (Strauss‘, Hofmannsthals „Elektra“) gestemmt, Euripides nachgelauscht, sondern auch, wie sein Kollege, auf Nietzsches abgehobene Dithyramben zurückgegriffen. Sein 80minütiges „Musiktheater in sechs Szenen“ setzt ungefähr da ein, wo Hofmannsthal und Strauss enden. Was vordergründig wie eine Blutrache-Endlosstory aussieht, wird zu einem Kreisen um die Frage nach den seelischen Folgen der Fremdbestimmtheit des Handelns und nach dem Umgang mit, wenn man so will, schuldloser Schuld. Die in ihrem Rachefuror fundamentalistische (hier weiterlebende) Elektra ficht dererlei nicht an. Sie ist das eine Extrem in der Alptraumwelt des Muttermörders Orest. Den Gott, den er sich bei Trojahn gleich als Apollo–Dionysos Zwitter imaginiert, das andere. Der Gott als perfekte Rechtfertigung, die außerhalb der eigenen Verantwortung gesetzt ist. Doch der Ausweg, den der verheißt, sich nämlich mit Menelaos zu verbünden und die nach dem verheerenden Trojanischen Krieg weithin gehasste Helena umzubringen, weil die am gesamten Schicksals-Schlamassel schuld ist, erweist sich als Sackgasse. Erst als er der Versuchung widersteht, Helenas Tochter Hermione umzubringen und sie stattdessen ansieht, glimmt ein Fünkchen der Hoffnung auf. Freilich ohne, dass es wirklich die Vorlage für ein jubelndes Finale wäre… .
Die Musik hebt aus der Stille an mit den raunenden Orest-Rufen der Frauenstimmen in seinem Kopf. Und mit einem gellenden Schrei. Doch schnell findet Trojahn zu einer sinnlich tonalen, suggestiv raunenden, immer wieder auch mit dramatischer Wucht ausbrechenden, manchmal explodierenden Sprache. So hört man es beim Nederlands Philharmonisch Orkest unter seinem Chef Marc Albrecht, der vor allem die vokale Lust und szenische Dynamik ausspielt. Bei ihm profitieren die dunklen Bläsergruppen und Streicher und das dosierte Schlagwerk zu dem von einer präzisen Transparenz. Durch die Teilnahme des Komponisten am gesamten Einstudierungs-Prozess ist seine Musik, inklusive der für ihn neuen Bandzuspielungen, optimal in den Raum eingepasst und zudem exzellent untereinander und mit den Protagonisten auf der Bühne ausbalanciert.
Und weil die anfängliche Verblüffung, die die gerne videoträumerisch durch die Szene wandelnde britische Regisseurin Katie Mitchell und der deutsche Komponist am Beginn ihrer Zusammenarbeit befallen hatte, alsbald einem produktiven Dialog wich, ist in Amsterdam auch eine maßgeschneiderte Inszenierung zu bestaunen. Es spricht für die Risikobereitschaft des Amsterdamer Intendanten Pierre Audi, der ja sein Stagione-Haus heuer achtmal hintereinander mit der Novität füllen muss, dass er seine aktuelle Uraufführung gleich als ambitionierte Interpretation und nicht erst Mal in sozusagen antikem Gewand über die Bühne gehen lässt. Für die diesmal gänzliche videoabstinente, hinter der bürgerlichen Fassade von heute, nach dem elementaren Seelenverwüstungen suchende Inszenierung hat Giles Cadle ein angeschnittenes, zweietagiges Wohnhaus auf die Bühne gesetzt. Mit bombastischem Treppenhaus, samt Blick in rieselnden Schnee draußen, großem Salon mit metaphorischer Couch unten und einem Schlafzimmer und Badezimmer oben. Im Hause Orest sind das alles Tatorte. Hier wurde schließlich erst ein König, Vater und Ehemann im Bade erschlagen und dann die Mutter und ihr Liebhaber auf dem Lotterbette gemeuchelt. Bei Mitchell ist denn auch die Spurensicherung ständig bei der Arbeit. Ihre Szene unterschlägt allenfalls die nachvollziehbare Verwandlung von Apollo in Dionysos. Wenn dann Orest zur Bohrmaschine greift, um Helena zu ermorden, gibt’s unfreiwillige Lacher, obwohl gerade da die Musik besonders subtil auf den Ernst der Lage hinaus will. Im Ganzen aber funktioniert dieser Blick in den (groß-)bürgerlichen Seelenabgrund als kammerspielartiger Thriller in seiner Vergegenwärtigung hervorragend.
Was nicht zuletzt an den Protagonisten liegt. Dietrich Henschel hat für diesen Orest genau die Eloquenz des Leidens, die seine Zerrissenheit glaubwürdig macht. Sarah Castle ist eine imponierend düster-fundamentalistische Elektra. Trojahn gönnt ihr, zusammen mit Romy Petricks Hermione und Rosemary Joshuas Helena, ein betörendes Terzett von beinahe Strauss’schem Format. Dass Finnur Bjarnason, zwar nicht von seiner Doppelrolle als Apollo und Dionysos, wohl aber von deren Höhen etwas überfordert war, glich der machtvoll polternde Johannes Chum als Menelaos wieder aus. Das Publikum reagierte freundlich, für die Begeisterung, die am Platze wäre, bleibt dann bei der ersten deutschen Nachinszenierung in Hannover genügend Spielraum.