Passend dazu eine in Sehnsuchtswirbeln grazil über die Bühne schwebende, vernachlässigte Frau. Jede Begegnung mit ihrem kümmernd bekümmerten Mann startet wie eine Kontaktimprovisation: Beide müssen stets wie neu zueinander finden. Und rennen doch immer wieder mit dem Kopf gegen die Wand. Fania Sorel kriecht derweil auf Knien durch die Choreografie-Miniaturen und erzählt von einem Mädchen, das mit einer Tüte voller Brot in den Wald geht, all ihr Hab und Gut Gut verschenkt, was sie so nackt wie glücklich macht. Da öffnet die Schauspielerin selbst ihre Plastiktüte voller Brot, auf der „Effective Altruism“ steht, füttert das Ensemble und schenkt einer halbnackten Tänzerin ihr Kleid. Erinnert sich, wie sie Seesterne vorm Tod bewahrt hat. Berichtet wie Organspender Menschenleben retten.
Und wem das noch nicht das Herz geöffnet hat, für den werden zwei Kurzfassungen von Lars-von-Trier-Filmen addiert. Nadine Geyersbach gibt Selma aus „Dancer in the dark“. Statt eine Metallpresse zu bedienen wie im Film, hängt sie Wäsche auf, immer mehr Wäsche, bricht zusammen unter dem Wäscheberg und rappelt sich wieder auf – arbeitet wie fremdbestimmt weiter. Sehnt sich nur mal kurz weg in Tanzausflügspausen mit Hochzeitkleid-Ornat. Opfert sich dann aber gleich wieder für den guten Zweck. Will nämlich das Geld für die Augen-OP ihres Kindes verdienen. Nicht aus mütterlich selbstloser Liebe, sondern wie immer bei von Trier auch aus einem Schuldgefühl heraus – nämlich dieses Kind bekommen zu haben in dem Wissen, es werde ihre Krankheit zum Erblinden erben.
Diesen Aspekt eliminiert Zandwijk. Es wird dem selbstlosen Handeln gehuldigt. Dafür braucht es keinen religiösen Beistand, keine Gebote eines Allwissenden. So verlöscht Geyersbach gleich zu Beginn in einem Moment stoischer Selbstbehauptung die Kerzen in einer gülden glänzenden Wandaussparung, entweiht den Andachtswinkel, räumt ihn frei für eine neue Maria: das unschuldig verdruckste Calvinistenmädel Bess aus „Breaking the waves“. Zumindest wird ihre Geschichte angedeutet – der gelähmte Gatte, der sie bittet, sich andere Sexpartner zu suchen und ihm von den Erlebnissen zu berichten. Und wie sie sich opfert aus Gattenliebe und Gottesfurcht auf dem Altar der körperlichen Lust.
Betörend in jeder Aufführungsekunde die zärtliche Soundtrackarbeit der Multiinstrumentalistin Maartje Teussink und ihre sanft kommentierend eingeblendeten Lieder: Mit kraftvoll klarer, melancholisch verdunkelter Stimme singt sie von Glaube, Liebe Hoffnung. Den „schönsten Wörtern“, wie Sorel erklärt. Und sich verbessert. Eigentlich seien die drei schönsten Wörter: Liebe, Liebe, Liebe. Sie ertrage, hoffe alles, halte allem stand. Auch jetzt wieder: Nicht der Diskurs wird gesucht über die Psychologie der Nächstenliebe, sondern das Gefühl ihrer Anwendung als das pur Positive gefeiert. Von Herzen kommend – soll es zu Herzen gehen. Schließlich ist das Gefühl der soziale Kitt der menschlichen Gesellschaft. Eine Kulturleistung wider die menschliche Natur.
Stets werden Motionsmomente von einer auf alle Figuren übertragen und in kurzen Tanzszenen ausformuliert. Bei denen Verlorenheit mitschwingt Bis das Flehen, Stolpern, Fallen ein Ende hat, alle zusamenfinden Sie helfen beim Wäscheaufhängen, beim Feudeln, bei der Altenpflege – fangen sich gegenseitig auf. Ja, es geht doch, das Menschliche müsse wieder in den Menschen gestopft werden, wie Fania Sorel betont, Liebe, Liebe, Liebe … ach, alle verzehren sich geradezu, diesen Geist der Aufführung über die ganze Welt auszuschütten. Pfingsttheater sozusagen. Das doch noch die Kurve zum Realismus kriegt. Denn natürlich erscheint am Ende alles vergeblich: Opa stirbt trotz liebender Fürsorge, die Paarbildungen klappen nicht, Gott schweigt. Aber gerade deswegen, so mag man interpretieren, hat jeder die Freiheit, es mit der Selbstlosigkeit zu versuchen.
So sympathisch unbeirrt Zandwijk dafür mit ihren Exerzitien der Güte wirbt und die Vernunft eben der Güte behauptet, ist anzumerken: Der Abend ist mit zwei pausenlosen Stunden einfach zu lang, um die Intensität der humanen Predigt aufrecht zu erhalten. Zu häufig weiß die Regisseurin als Choreografin mit Figuren auf der Bühne nichts anzufangen. Immer wieder geht Szenen die emotionale Puste aus. Redundanzen führen nicht den betont disparaten Bewegungsreigen zusammen, sondern zerdehnen den Abend, der ganz ohne intellektuelles Futter, allein aufs Evozieren von Gefühlen durch Tanz und Musik setzt. Letztlich aber mit schönen Bildern, heiligen Narren und der tragikomischen Tristesse einer Moral ohne Gott zu überzeugen weiß. Also mit dem Guten – als Blasphemie.