Foto: "Lazarus" am Staatstheater Nürnberg © Konrad Fersterer
Text:Dieter Stoll, am 3. Februar 2019
Würde der Zuschauer den Besuch dieser Vorstellung mit einem Kopfstand eröffnen, könnte er nur das in aller Einsamkeit verkehrt auf den Zwischenvorhang gekritzelte Wort „Hope“ als Leitmotiv für den Einstieg bestimmen. Gelenkt hoffnungsvoll ist also der erste Blick auf das Musical „Lazarus“ von David Bowie und Enda Walsh im Staatstheater Nürnberg. Was auch heißt: Jenseits der Ordnung und gerne auch gegen sie. In der besenreinen, von Nebelschwaden bedrohten Airport-Abfertigungshalle verteilt eine wenig später auch singende Reinigungsfachkraft zunächst sorgfältig Müll aus der Tüte, damit der normale Verwüstungszustand der Zivilisation glaubwürdig hergestellt ist. Auf der Wartesaal-Bank kämpft derweil ein einsamer Mann namens Newton eigentlich mit dem großen Ganzen, zunächst jedoch kleinteilig mit seiner defekten Musikkassette, drückt die klemmende Taste, zerrt am durchhängenden Tonband, horcht auf die eiernden Anfangstöne eines Hits, der gleichzeitig Nerven tötet und Erinnerung weckt: „Hello, Mary Lou“.
Eine verflossene Liebe, fremdgeschämt im Zitat der Evergreen-Schnulze, beutelt das Gemütsleben des Mannes. Aus der Zeit gefallen und, wie der wahre Fan von David Bowie seit 1976 weiß, auch aus dem Himmel. Ein Außerirdischer also, bei der Suche nach dem Überleben trotz Energiekrise einst auf Erden gelandet, nun der Schwerkraft und den eigenen Halluzinationen ausgeliefert. Seit seiner cineastischen Geburt ist der Leasing-Star zum Alter Ego der Pop-Kunstfigur mit dem wechselnden Existenz-Design mutiert: Bowie, ein Chamäleon als Ikone. Was ihn so sehr prägte, dass die 40 Jahre später mit dem Autor Enda Walsh beschlossene Schaffung des ersten und einzigen eigenen Musicals entlang am Spalier der Song-Auslese geradezu zwangsläufig wie ein Vermächtnis wirken muss. Mary Lou gehört nicht zum Bowie-Erbe, eher zu den Dämonen, die seine theatralische Auftrags-Figur quälen. Eine Liebe, die wahrhaftig sein und zugleich Illusion bleiben kann – wie alles, was hier den Anspruch auf Realität erhebt.
Die deutschen Bühnen greifen derzeit geradezu gierig nach dem Angebot vom Off-Broadway und die ersten „Lazarus“-Inszenierungen (Düsseldorf, Hamburg, Bremen) kollidierten gleich mit der Grundsatzfrage, ob man eher den Albtraum-Thriller oder die Nummernrevue erwarten oder ein Mosaik aus atmosphärischen Skizzen erhoffen soll. Eins ist klar: Die künstlerische Ambition übertrifft alles, was da in den letzten Jahrzehnten aus Abbas und unserer beiden Udos Archiven als massentaugliches Showspiel aus zweiter Hand entstand.
Tilo Nest, der in Nürnberg inszenierende Schauspieler vom Berliner Ensemble, hatte bei seinem Konzept wohl ein Requiem im Sinn. Bühnenbildner Stefan Heyne entwarf dafür die weitläufige Kathedralen-Dunkelkammer, die sich mühelos zum Konzertraum öffnet und zur Geisterbahn schließt, reizte die Hydraulik des Hauses aus und blieb irgendwann doch in der Totalen als denkbar großzügigstem Blickfang hängen. Grell lackierte Girls tupfen sich selbst als mobile Farbkleckse ins Trübe, es wird von Leben und Tod gemunkelt, die Metaphern spielen Versteck. Lauter Reizmomente, die mithalten wollen beim Freigang einer Pop-Legende.
Wenn dann, nach jeweils zeitlich überschaubarem Poeten-Intermezzo (nein, den Autor Enda Walsh mit seinen gestreuten Verästelungen wird kein Zuschauer in Erinnerung behalten wollen), der nächste Song kommt, öffnen sich Aha-Momente anderer Welten. An der portionierten Bildrausch-Ästhetik kommt der Regisseur der Nürnberger Aufführung sowieso nicht vorbei, was sicher auch an den gnadenlosen Vorgaben der Rechte-Inhaber liegt, also gibt es statt Requiem eher ein Clip-Oratorium. Viel gut sortiertes Reizmaterial, das sich nicht recht zum großen Bild verdichten mag.
Den grauen Mann, der nicht sterben kann, spielt Sascha Tuxhorn mit eigenartiger Innen-Dynamik. Keine Imitation des Originals, sondern die souveräne Entwicklung des Newton als gebrochener Alien-Autist, manchmal geradezu demonstrativ zur hilflosen Randfigur verschoben und erdrückt von der eigenen Melancholie, dann wieder explosiv aus dem Stand. Sein Umgang mit dem Song-Material ist typisch fürs ganze Ensemble. Er sucht nicht die Imitation, nimmt jede „Nummer“ als andere Interpretations-Herausforderung und entgeht somit allen glättenden Karaoke-Mühen. Das gelingt nicht jedem singenden Schauspieler so gut, aber mit Lea Sophie Salfeld (Elly), Amadeus Köhli (Zach), Nicolas Frederick Djuren (Valentine) und Yascha Finn Nolting (Ben, der auch Gitarrist in der Bowie-Band des Abends ist) wird die Zahl der Könner ansehnlich. Kostia Rapoport und Vera Mohrs (sie auch als „Teenage Girl 1“ unterwegs) leiten von Keyboard und Klavier aus sechs weitere Musiker, die den Stimmen gelegentlich arg zusetzen. Erst bei „Absolute Beginners“, als erblühendes Kollektivprojekt umgesetzt, entsteht ein langer Augenblick jener abgehobenen Theater-Träumerei, die aus Bowies gesammelten Werken die von ihm immer erstrebte neue Kunstform machen könnte.
Beim Schlussjubel hat das Nürnberger Publikum in einem der Bowie-Songs den Hinweis auf die „Nürnberger Straße“ registriert (auch wenn die in seinen jungen Jahren in Berlin liegt) und ein Finale mit Science-Fiction-Lichtspiel wie für E.T. geschaffen erlebt. Auf dem Pavillon-Podest, das am Anfang stilisierte Wolken als tapezierte Himmelsverheißung zeigte, ist ein strahlender Schacht entstanden, die Hoffnungskammer fürs Beamen in die bessere Welt hinter den Sternen. Sie bleibt ungenutzt, ist blanke Illusion. Der erste Eindruck stimmte also, die Hoffnung steht Kopf.