Die deutschen Bühnen greifen derzeit geradezu gierig nach dem Angebot vom Off-Broadway und die ersten „Lazarus“-Inszenierungen (Düsseldorf, Hamburg, Bremen) kollidierten gleich mit der Grundsatzfrage, ob man eher den Albtraum-Thriller oder die Nummernrevue erwarten oder ein Mosaik aus atmosphärischen Skizzen erhoffen soll. Eins ist klar: Die künstlerische Ambition übertrifft alles, was da in den letzten Jahrzehnten aus Abbas und unserer beiden Udos Archiven als massentaugliches Showspiel aus zweiter Hand entstand.
Tilo Nest, der in Nürnberg inszenierende Schauspieler vom Berliner Ensemble, hatte bei seinem Konzept wohl ein Requiem im Sinn. Bühnenbildner Stefan Heyne entwarf dafür die weitläufige Kathedralen-Dunkelkammer, die sich mühelos zum Konzertraum öffnet und zur Geisterbahn schließt, reizte die Hydraulik des Hauses aus und blieb irgendwann doch in der Totalen als denkbar großzügigstem Blickfang hängen. Grell lackierte Girls tupfen sich selbst als mobile Farbkleckse ins Trübe, es wird von Leben und Tod gemunkelt, die Metaphern spielen Versteck. Lauter Reizmomente, die mithalten wollen beim Freigang einer Pop-Legende.
Wenn dann, nach jeweils zeitlich überschaubarem Poeten-Intermezzo (nein, den Autor Enda Walsh mit seinen gestreuten Verästelungen wird kein Zuschauer in Erinnerung behalten wollen), der nächste Song kommt, öffnen sich Aha-Momente anderer Welten. An der portionierten Bildrausch-Ästhetik kommt der Regisseur der Nürnberger Aufführung sowieso nicht vorbei, was sicher auch an den gnadenlosen Vorgaben der Rechte-Inhaber liegt, also gibt es statt Requiem eher ein Clip-Oratorium. Viel gut sortiertes Reizmaterial, das sich nicht recht zum großen Bild verdichten mag.
Den grauen Mann, der nicht sterben kann, spielt Sascha Tuxhorn mit eigenartiger Innen-Dynamik. Keine Imitation des Originals, sondern die souveräne Entwicklung des Newton als gebrochener Alien-Autist, manchmal geradezu demonstrativ zur hilflosen Randfigur verschoben und erdrückt von der eigenen Melancholie, dann wieder explosiv aus dem Stand. Sein Umgang mit dem Song-Material ist typisch fürs ganze Ensemble. Er sucht nicht die Imitation, nimmt jede „Nummer“ als andere Interpretations-Herausforderung und entgeht somit allen glättenden Karaoke-Mühen. Das gelingt nicht jedem singenden Schauspieler so gut, aber mit Lea Sophie Salfeld (Elly), Amadeus Köhli (Zach), Nicolas Frederick Djuren (Valentine) und Yascha Finn Nolting (Ben, der auch Gitarrist in der Bowie-Band des Abends ist) wird die Zahl der Könner ansehnlich. Kostia Rapoport und Vera Mohrs (sie auch als „Teenage Girl 1“ unterwegs) leiten von Keyboard und Klavier aus sechs weitere Musiker, die den Stimmen gelegentlich arg zusetzen. Erst bei „Absolute Beginners“, als erblühendes Kollektivprojekt umgesetzt, entsteht ein langer Augenblick jener abgehobenen Theater-Träumerei, die aus Bowies gesammelten Werken die von ihm immer erstrebte neue Kunstform machen könnte.
Beim Schlussjubel hat das Nürnberger Publikum in einem der Bowie-Songs den Hinweis auf die „Nürnberger Straße“ registriert (auch wenn die in seinen jungen Jahren in Berlin liegt) und ein Finale mit Science-Fiction-Lichtspiel wie für E.T. geschaffen erlebt. Auf dem Pavillon-Podest, das am Anfang stilisierte Wolken als tapezierte Himmelsverheißung zeigte, ist ein strahlender Schacht entstanden, die Hoffnungskammer fürs Beamen in die bessere Welt hinter den Sternen. Sie bleibt ungenutzt, ist blanke Illusion. Der erste Eindruck stimmte also, die Hoffnung steht Kopf.