Foto: Die Baugemeinschaft aus "Richtfest" beim verzückten I-Pad-Studium auf der Bühne der Kammerspiele in Bochum. © Thomas Aurin
Text:Detlev Baur, am 10. Dezember 2012
Ungenau konstruiert ist in Lutz Hübner neuestem Stück sehr wenig. Allein der Titel „Richtfest“ ist unpräzise, denn die Baugemeinschaft in der Goethestraße kommt, jedenfalls in den neun Szenen des Dramas, gar nicht erst bis zum Richtfest. Vielmehr endet die anfangs so bemüht-harmonische Gemeinschaft aus elf Menschen, die gemeinsam bauen und leben wollen, nach sich zuspitzenden Konflikten im handgreiflichen Streit und in desillusionierten Betrachtungen über die Gründe des Hausbaus in der Menschheitsgeschichte.
Wieder einmal hat Lutz Hübner eine konkrete gesellschaftliche Erscheinung aufgegriffen und in ein Stück verwandelt: hier das immer beliebtere gemeinsame Bauen von Häusern oder Wohnanlagen durch private Beteiligte, die sich auf diese Weise eine selbst gewählte Gemeinschaft innerhalb der Stadt schaffen beziehungsweise finanziell überhaupt leisten können. Er bleibt jedoch keineswegs bei Recherche und Dokumentation stehen, sondern verbindet das Thema mit gezielt ausgewählten und traditionell miteinander verbundenen Dramenfiguren. Der gesprächige Professor und seine toughe Frau, die für eine Stiftung die PR-Arbeit macht, die ältere und zunehmend wirre Ex-Kneipenwirtin, der junge Assistenzarzt mit seiner Frau, die Referendarin im Mutterschaftsurlaub ist, ein schwules Musikerpärchen sowie der naive Beamte, samt Frau aus dem Sozialbereich und 17-jähriger Tochter, der wiederum der junge, ambitionierte Architekt gut gefällt. Während die Beteiligten anfangs noch vom großen Wohnglück schwadronieren, entstehen mit Vertragsunterzeichnung und Finanzierungsproblemen zunehmend Konflikte unter den Beteiligten. Die rüstige Rentnerin erweist sich als Messi, das junge Paar ist finanziell überfordert, das relativ reiche Paar isoliert, auch Spannungen innerhalb der Paare nehmen zu; der Architekt versteht das Projekt als Karrierechance, interessiert sich für die Ästhetik des Baus, aber weniger für seine potenziellen Mitbewohner. Auch wird klar, dass die Unterschiede zwischen gemeinsamem Bauen und späterem Leben in dem Projekt kaum durchgedacht sind.
Die Figuren hingegen sind genau und liebevoll gezeichnet, die „Gerechtigkeit“ des Autors gegenüber den Argumenten und Zielen aller elf Figuren ist bemerkenswert. Es entsteht ein, oft komisches, Panorama einer diffusen Gesellschaft, die sich zwischen sozialer Utopie und Eigensinn aufreibt. In Anselm Webers Uraufführungsinszenierung wird dieser allgemeingültige Sinn von „Richtfest“ von Anfang an betont. Die Baugemeinschaftler sitzen in der ersten Reihe der Kammerspiele, wenn sie nicht auf der freien Fläche in einem noch frei gestaltbaren Raum (Bühne: Alex Harb) Ansprachen halten, Pläne präsentieren oder sich streiten. Die Begrenzung der Bühne zur Seite entsteht durch jeweils eine große weiße Papierbahn an den Seiten und nach hinten. Einen Akteur aus dem hervorragend zusammenspielenden Ensemble hervorzuheben, wäre sinnlos. Die Lebendigkeit des Spiels, die Offenheit des Raums und die Ausgewogenheit des Stücks reizen den Zuschauer fast dazu, mitzudiskutieren in dieser kleinen Gesellschaft. Denn letztlich behandelt „Richtfest“ nicht nur eine besondere Gruppe, sondern unsere Gesellschaft insgesamt. Relativ traditionell gebaut wirkt dieses Stück, und ist doch thematisch ganz zeitgemäß und exakt. Das Stück und seine Uraufführung schaffen durch genaues Handwerk ein klares Kunstwerk über unsere Gesellschaft. Da kann mancher Architekt (und viele Dramatiker) etwas lernen.