Ensembleszene

Gruppe (ohne) 47

Johannes Kreidler: Mein Staat als Freund und Geliebte

Theater:Bühnen Halle, Premiere:27.04.2018 (UA)Regie:Johannes KreidlerMusikalische Leitung:Christopher Sprenger

Seit Florian Lutz und seine Truppe die künstlerische Ausrichtung der Oper in Halle bestimmen, ist manches anders geworden. Aufregender. Im doppelten Wortsinn. Durch (für Halle) neue Sichtweisen auf die (meistens auch nur alten) Stücke. Durch Experimente – inklusive des Risikos zu scheitern. Die Oper ist damit zum Gegenstand von und zu einem Ort für Diskussionen geworden. Natürlich gibt es auch Gegenwind. Von innen und von außen. Natürlich regen sich Zuschauer – ganz klassisch – auf, halten dagegen oder gehen einfach.

So wie jetzt im gesprochenen Schlussmonolog von Johannes Kreidlers „Mein Staat als Freund und Geliebte“. In dem geht es weder ums Thema noch um irgend etwas Provozierendes. Da redet der Pianist, Schauspieler und Performer Stefan Paul einfach nur über Rituale in der Oper. Genauer: über den (Un-)Sinn von Applaus. Auch wenn man seine These nicht teilt, dass unmittelbar nach einer Vorstellung eigentlich nicht applaudiert oder Missfallen bekundet werden sollte, war das immerhin interessant. Es war wohl schlicht die Form eines ernsthaft entwickelten Gedankens, die so provozierend war, dass einfach etliche Zuschauer den Saal verließen. Das passte wiederum – hübsch dialektisch – zu seinen Ausführungen. Kreidler hielt sich (als Regisseur) an seine These (als Autor), dämmte zum Schluss einfach das Licht auf der Bühne weg und ließ niemanden vor den (nicht vorhandenen) Vorhang.

Dabei hätten gerade der Dirigent Christopher Sprenger und die Staatskapelle für die Beherrschung der permanenten Wechsel zwischen den höchst unterschiedlichen musikalischen Schnipseln der collagierten Musik und der von Rustam Samedov exzellent sowohl in seinem Wagner- wie in seinem skandierenden Sprechduktus einstudierte und mit einer eigenen Spielchoreographie aufgewertete Chor (plus Extrachor) jeden Beifall verdient. Ebenso das integrierte Ballett, dem der Tänzer Dalier Burchanov eine Choreografie verpasst hat, die Lust auf mehr macht. Tenor Christian Voigt, der u.a. seine Tristan-Häppchen standfest beisteuerte, konnte wenigstens einen spontanen Szenenapplaus verbuchen, als er den Mackie-Messer Song zur Melodie des Deutschlandliedes und dessen Text zur Musik von Weill über die Rampe schmetterte.

Was beides für sich genommen funktionierte. Und was tatsächlich auch irgendwie zum Thema des Abends gehörte. Denn, dass Individuen bzw. Bürger den Staat gerne auch als eine Art fürsorgliches ÜberIch betrachten oder eben als Freund, ja Geliebte sehen, also vor allem Wünsche und Forderungen in eine überindividuelle Sphäre projizieren, ist ja durchaus ein interessanter Gegenstand. Für Diskurs und Hinterfragen. Aber einfach in den vorgefundenen, zerstückelten und neu als Collage zusammengesetzten Bruchstücken aus Filmschmonzetten (Abteilung: Liebe, Western, Heimat, Sandale) und Opern (Tristan, Lohengrin, Parsifal) einen der Partner im Duett nicht mit seinem Namen, sondern einfach als Staat anzusprechen, das hat nur einen begrenzten Witz. Und noch weniger Erkenntniswert. Es bleibt ein Spiel mit der Oberfläche. Kreidler muss bei seiner Collage schon auf die Schultern von Wagner klettern, damit das Ganze als Kunst nicht nur irgendwie vorlaut, sondern auch unterhaltsam wird. Wenn Stefan Paul etwa von 1 bis 150 zählt, um dann zu erklären, dass das die Zahl der Menschen ist, die man persönlich kennen kann, dann wird man sich das merken, vielleicht sogar überprüfen. Unfreiwillig (?) amüsant war aber eher, dass er die 47 unterschlug. „Gruppe (ohne) 47“ sozusagen. …

Christoph Ernsts Bühne passt – großräumig offen und weiss ausgeschlagen, mit Schrankwand-Dekor fürs TV (in dem der Regierungssprecher und die Kanzlerin mit Oslo-Dekolleté auftauchen) und eine Kinoleinwand hinten für diverse Filmschnipsel, samt Laufsteg über den Graben. Da wäre für die Königin Gertrud von Dänemark auch noch ein Plätzchen gewesen. Die hätte für ihren Satz „Mehr Inhalt – weniger Kunst“ sicher auch einen Szenenapplaus bekommen.

Insgesamt bleibt der Eindruck des Abends zwiespältig. Dass Florian Lutz sein Vorhaben umsetzt, jedes Jahr ein neues Werk in Auftrag zu geben und dann herauszubringen, gehört – ganz gleich wie das Resultat ausfällt – auf seine Habenseite. Mit der Dschihad-Oper „Sacrifice“ von Sarah Nemtsov, die er in der vorigen Spielzeit selbst in der Raumbühne Heterotopia inszeniert hat, liegt die Messlatte allerdings ziemlich hoch. Ein brandaktuelles Thema, eine aufwühlend packende und durch ihre Radikalität verstörende Musik und eine adäquate Inszenierung brachten ein Gesamtkunstwerk auf die Bühne, dem niemand ausweichen konnte. Oper als Faustschlag in die Magengrube. Kreidler muss sich nicht mal bücken, um diese Latte nicht zu reißen…. Immerhin „muss“ man diesmal nicht mal klatschen. Man sollte aber auch nicht vorzeitig gehen…