Foto: Matthias Walter in "Nackt über Berlin" am Theater Halle © Falk Wenzel
Text:Michael Laages, am 17. September 2018
Auch der Film ist schon in Arbeit. Kein Wunder: Der Berliner Autor Axel Ranisch dreht selber Filme; inszeniert aber auch im Musiktheater und spielt einen gewichtigen Krimi-Kommissar. Das Multi-Talent vom Jahrgang 1983 hatte im Frühjahr den ersten Roman vorgelegt: „Nackt über Berlin“. Und der ist an sich schon so schnell und schwindlig geschrieben, dass es dem Theater gar nicht so leicht fällt, Schritt zu halten. In Halle allerdings hat sich eine spezielle Konstellation gefunden, die Ranischs Tempo übersetzbar werden lässt. Denn hier hatte sich das Schauspiel-Ensemble mit der Regisseurin (und Chefdramaturgin) Henriette Hörnigk im Haus des Opern-Intendanten Florian Lutz vom Bühnenbildner Sebastian Hannak vor Jahren eine Raumbühne installieren lassen; sie trug den etwas ambitiösen Markennamen der „Heterotopia“ und wurde im vorigen November ausgezeichnet mit dem FAUST-Preis fürs beste Bühnenbild. Diese aufwändige Spiel-Konstruktion ist jetzt, am Beginn der Saison, wieder im Einsatz: fürs Musiktheater, aber eben auch für Ranischs wilden, wüsten Großstadtroman.
Wir, das Publikum, sind mitten im Spiel platziert: auf der Drehbühne. Die kreiselt fleißig und führt unseren Blick auf teils offene, teils mehrstöckige Bühnen-Segmente an allen vier Seiten des Hauses. Wer mag, erinnert sich an Bert Neumanns Stahlstreben-Turm für Frank Castorfs Dostojewski-Exzess „Der Idiot“ – ohne nennenswerte Umbauten drehen wir uns von Szene zu Szene; und bleiben so all den schnell wechselnden Szenarien in Ranischs Roman auf der Spur.
Eher bürgerlich-bieder beginnt’s: Bei einer Schulfreizeit im „Flecken Zechlin“ (den es wirklich gab, mit altem FDGB-Heim – Ranisch selbst hat dort Zeit verbracht) wird Wedekinds „Frühlings Erwachen“ geprobt. Und offenkundig hat die Darstellerin der (auch im Stück) dem frühen Tod geweihten Wendla Bergmann eine Affäre mit dem Leiter der Theater-AG. Beim Schuljahresbeginn fliegt die Geschichte auf; das Mädchen bringt sich um. Direktor Lamprecht vertuscht den Fall, um die Schule (und das eigene Amt) zu retten; ein vietnamesischstämmiger Junge, der verliebt war in das Mädchen, inszeniert aus Rache eine Art Geiselnahme. Der Direx wird mit vielen technischen Tricks eingesperrt im eigenen Mini-Apartment, in dem er nach der Trennung von der Familie lebt; ein Wochenende lang und darüber hinaus, fast bis in den Tod, wird er terrorisiert vom trauernden Freund des toten Mädchens. Und der zieht auch einen Mitschüler ins Spiel, der einerseits ein musikalisches Genie ist, andererseits gerade das eigene „coming out“ als Homosexueller durchlebt – was sich der düstre Rächer zunutze macht. Jannik macht mit, aus erwachender Liebe zu Tai.
Die verschiedenen Familien drumherum markieren den extrem diversen sozialen Hintergrund für dieses rasante Panorama – an dessen Ende Lamprecht zwar wieder frei ist, sich aber unermesslich schuldig fühlt. An Strafverfolgung ist nicht zu denken; aber immerhin scheint sich die eigene Familie wieder um ihn zu sammeln… Oder ist das nur Lamprechts Traum? Gegen Ende fasert die Fabel merklich aus; wie überhaupt der zweite, kürzere Teil auch von Hörnigks Inszenierung beträchtliche Schwächen aufweist. Ohne Pause und mit kräftigen Strichen in den zuweilen ziemlich verquatschten Szenen gegen Ende nähme die Bedrohlichkeit noch zu: in der Fabel um die Schuld, der niemand entkommt.
Henriette Hörnigk zeigt großes Gespür für die stetig wechselnden Temperaturen all der vielen Temperamente im Ranisch-Universum. Denn so dramatisch sowohl Tod und Terror als auch die Entdeckungen im eigenen sexuellen Ich die Geschichte voran treiben, so genüsslich lässt sich die Regisseurin auch auf liebenswert-vertrottelte Typen und schrille-schräge Chargen ein. Ihr steht ein Ensemble zur Verfügung, dessen Hauptdarsteller das Kollektiv ist; auch wenn sich das Geschehen immer wieder auf Matthias Walter als Direktor in der Schuld-und-Terror-Falle fokussiert, auf die Figur des trauernden Täters, wie Ali Aykar sie spielt (einer übrigens aus dem Hallenser Studio der Schauspiel-Uni in Leipzig!), und auf Alexander Pensel, der – ausgestopft als dickes Kind (Kostüme: Angela Baumgart) – neben der Liebe des Virtuosen zur Musik plötzlich auch die zum Mann in sich und an sich entdeckt.
Gern (und meistens eher fahrlässig) ist von „großem Kino“ die Rede, auch wenn’s überhaupt nicht um die Leinwand geht. Mit Hannaks delirierender Dreh-Raum-Bühne und in Hörnigks entfesselnder Inszenierung ist das Wort vielleicht ja doch mal am Platze.