Eher bürgerlich-bieder beginnt’s: Bei einer Schulfreizeit im „Flecken Zechlin“ (den es wirklich gab, mit altem FDGB-Heim – Ranisch selbst hat dort Zeit verbracht) wird Wedekinds „Frühlings Erwachen“ geprobt. Und offenkundig hat die Darstellerin der (auch im Stück) dem frühen Tod geweihten Wendla Bergmann eine Affäre mit dem Leiter der Theater-AG. Beim Schuljahresbeginn fliegt die Geschichte auf; das Mädchen bringt sich um. Direktor Lamprecht vertuscht den Fall, um die Schule (und das eigene Amt) zu retten; ein vietnamesischstämmiger Junge, der verliebt war in das Mädchen, inszeniert aus Rache eine Art Geiselnahme. Der Direx wird mit vielen technischen Tricks eingesperrt im eigenen Mini-Apartment, in dem er nach der Trennung von der Familie lebt; ein Wochenende lang und darüber hinaus, fast bis in den Tod, wird er terrorisiert vom trauernden Freund des toten Mädchens. Und der zieht auch einen Mitschüler ins Spiel, der einerseits ein musikalisches Genie ist, andererseits gerade das eigene „coming out“ als Homosexueller durchlebt – was sich der düstre Rächer zunutze macht. Jannik macht mit, aus erwachender Liebe zu Tai.
Die verschiedenen Familien drumherum markieren den extrem diversen sozialen Hintergrund für dieses rasante Panorama – an dessen Ende Lamprecht zwar wieder frei ist, sich aber unermesslich schuldig fühlt. An Strafverfolgung ist nicht zu denken; aber immerhin scheint sich die eigene Familie wieder um ihn zu sammeln… Oder ist das nur Lamprechts Traum? Gegen Ende fasert die Fabel merklich aus; wie überhaupt der zweite, kürzere Teil auch von Hörnigks Inszenierung beträchtliche Schwächen aufweist. Ohne Pause und mit kräftigen Strichen in den zuweilen ziemlich verquatschten Szenen gegen Ende nähme die Bedrohlichkeit noch zu: in der Fabel um die Schuld, der niemand entkommt.
Henriette Hörnigk zeigt großes Gespür für die stetig wechselnden Temperaturen all der vielen Temperamente im Ranisch-Universum. Denn so dramatisch sowohl Tod und Terror als auch die Entdeckungen im eigenen sexuellen Ich die Geschichte voran treiben, so genüsslich lässt sich die Regisseurin auch auf liebenswert-vertrottelte Typen und schrille-schräge Chargen ein. Ihr steht ein Ensemble zur Verfügung, dessen Hauptdarsteller das Kollektiv ist; auch wenn sich das Geschehen immer wieder auf Matthias Walter als Direktor in der Schuld-und-Terror-Falle fokussiert, auf die Figur des trauernden Täters, wie Ali Aykar sie spielt (einer übrigens aus dem Hallenser Studio der Schauspiel-Uni in Leipzig!), und auf Alexander Pensel, der – ausgestopft als dickes Kind (Kostüme: Angela Baumgart) – neben der Liebe des Virtuosen zur Musik plötzlich auch die zum Mann in sich und an sich entdeckt.
Gern (und meistens eher fahrlässig) ist von „großem Kino“ die Rede, auch wenn’s überhaupt nicht um die Leinwand geht. Mit Hannaks delirierender Dreh-Raum-Bühne und in Hörnigks entfesselnder Inszenierung ist das Wort vielleicht ja doch mal am Platze.