In der knapp siebenstündigen Hamburger Inszenierung fällt dieses Finale bescheiden aus. Götter gibt es hier ohnehin nicht mehr; Orest (ein grandios verzweifelter Carlo Ljubek, der gar keinen Chor von Rachegeistern braucht, um an seiner Tat irre zu werden) funktioniert in den „Eumeniden“ den alten, abgehängten Lüster aus dem Hause, an dem zuvor die rachelüsterne Mutter Klytaimnestra (Maria Schader) herumsegelte, mit rotem Stoff und abgelegter Gesichtsmaske zur (auffallend mutterähnlichen) Tand-Athene um. Die drei Chorgestalten aus dem „Agamemnon“, Gustav Peter Wöhler, Joachim Meyerhoff und Michael Wittenborn, betreten in ihren Rollkragenpullovern noch einmal kurz die Bühne und erklären mit Hilfe naturwissenschaftlicher Exempel dem verzweifelten jungen Mann, wie schwierig die Frage, „Schuldig oder nicht schuldig?“, zu entscheiden sei. Der Vorhang zu und alle Fragen offen – jedenfalls für Orest. Angekommen sind die anderen reisenden Rasenden allenfalls im Tod.
Keine Götter, kein Gericht, kein Rechtsstaat. Kein Chor. „Früher war alles besser“, darauf können sich schon im „Agamemnon“ die drei komischen Chorrestevertreter einigen. Im „Agamemnon“ wirken die drei Komiker, die Überbleibsel des Chors der Alten, wie parasitäre Feiglinge oder Shakespearsche Narren. Auf dieses Volk lässt sich nicht bauen. Schauplatz ist eine Dauerparty mit offener Küche, vielen Äpfeln auf dem Bühnenboden (Bühne: Thomas Dreißigacker), Götterspeise und herum baumelnden Schweinehälften. Agamemnon (Götz Schubert) kehrt als tätowierter, innerlich schon abgestorbener Kriegsveteran zurück, Maria Schraders Klytaimnestra ist mit rotem Rokoko-Kleid und Perücke (Kostüme: Maria Roers) von Beginn an zu einer mumifizierten Gefühlstoten geworden. Und bis zum Ende steckt am Rand der Bühne die Maske des in der „Iphigenie“ ermordeten Kindes.
Sie wird zu Beginn des Abends von Anne Müller vielschichtig als ängstliches Mädchen, dann als stilles Opfer, schließlich als erschreckende Märtyrerin gespielt. Mit großen Gesichtsmasken, auf Podesten oder Kothurnen führt dieser Beginn in eine Art zeitgenössischen Ausstellungsraum, in dem das Familiendrama mit Hilfe von Live-Musik Fahrt aufnimmt. Nach einem Übergang, der in Jörg Gollaschs „Eine große Stadt versank in gelbem Rauch“, einem kleinen Konzert für Streichorchester und Chor, den trojanischen Krieg emotional hörbar macht, wird die Bühne – nach Niederstrecken der rund dreißig stehenden Streichmusiker durch Ascheregen – zum Schauplatz der „Troerinnen“. In etwas umfassenderer Form hat Karin Beier dieses Stück schon in der letzten Spielzeit in Köln gezeigt. Es gewinnt durch das Vorspiel, und verliert so von seinem leicht kunstgewerblichen Charakter. Und doch ist der zweite Teil der „Rasenden“ mit der „Orestie“ der mutigere. Über das zeitlos Emotionale hinaus, versucht die Inszenierung hier mit der Orientierungslosigkeit umzugehen. Das geht mit einer Verkleinerung von Chor und hehren Helden einher. Doch drückt sich die Inszenierung nicht völlig um den Übervater Zeus: Allein er ist nicht zu finden, auch wenn Orest ihn mit dem letzten Wort des Abends fragend anruft.
Allerdings steht der Mittelblock des zweiten Teils mit der „Elektra“ nach Hugo von Hofmannsthals psychopathologischer Variante in jeder Beziehung isoliert. Unter dem Bühnenboden haust Birgit Minichmayrs Heldin voll Trotz und Leid. Bevor sie nach oben kommt, um den Muttermord vorzubereiten, ist sie nur auf schwarz-weiß Bildern per Live-Video (Meika Dresenkamp) zu sehen, diese Ästhetik erinnert (nicht nur an Frank Castorf, sondern auch) an das Leiden in Stummfilmen. Die Isolation der Elektra ist auch in der Gesamtkomposition des Abends auffällig. Für die Erzählung des Ganzen scheint der Abschnitt weitgehend verzichtbar, andererseits wünscht man sich mehr von dieser Schauspielerin zu sehen.
Insgesamt ist dieses Großprojekt mit Streichorchester, riesigem Hintergrundchor und einer Fülle großartiger Darsteller (erwähnt seien auch Angelika Richter, Lina Beckmann, Julia Wieninger oder Yorck Dippe) handwerklich untadelig. Gerade in der Teilung auf zwei Abende wird die Inszenierung mit Sicherheit ihren Weg am Deutschen Schauspielhaus machen. Als Anregung für ein Nachdenken über Familie, Stadt und Religion scheint der zweite Teil, vor allem mit dem „Agamemnon“ und den kurzen „Eumeniden“ am Schluss, jedoch der wesentlich anregendere zu sein, kommt das Spiel hier doch über ein gekonnt illustriertes Nacherzählen hinaus. Diese vergrößerte „Orestie“ der „Rasenden“ ist genau besehen sehr klein – und schafft damit teilweise großartiges Theater an einem sehr groß dimensionierten Abend.