Frankensteins Kreatur (Topi Lehtipuu, der in seiner Verkleidung wie ein Zombie aus „The Walking Dead“ aussieht) ist hier wie im Roman das Objekt der Wissenschaft. Im „Jahr 354 der Neuen Anthropogenischen Eiszeit“ wird es aus dem Eis geholt und mit Elektroschocks wiederbelebt, um zu sehen – ja, was eigentlich? Wie es sich verhält, wie es spricht, woran es sich erinnert? Vielleicht um herauszufinden, ob es mehrere Hundert Jahre nach seiner Erschaffung lebensfähiger wäre, oder anders: ob möglicherweise diese alles zu Eis machende Gesellschaft eher in der Lage wäre, mit einem potenziell gefährlichen, jedoch vor allem schwer traumatisierten Wesen wie diesem umzugehen.
Dabei sieht man die sterile Laborwelt durch die Augen der Forscher, und die Geschichte der Kreatur durch die ihren. Kaum erwacht, zucken hier Flashbacks über die durchscheinenden Wände auf der Bühne: Wald, Schnee, Sonne auf einem See, eine Familie in einem kleinen Holzhaus, der blinde Vater. Und dann: Feuer, ein wütender Mob mit Fackeln und Mistgabeln, vor Hass verzerrte Gesichter, später ein Junge, der panisch vor uns davonläuft, ins Wasser fällt, von zwei Händen gegriffen und ertränkt wird. Dazu eine Musik, die so konkret ist wie ambivalent. Sie changiert zwischen der Fratzenhaftigkeit hinkender Märsche und der Wärme echter romantischfarbiger Lyrik, beschwört orgelähnlich obertonreiche Spaltklänge und erstarrt in eiskalten vibratolosen Streicherflächen. Immer wieder, omnipräsent, kommentiert der Chor antik-tragödienhaft das Geschehen. Fast wirkt die Musik selbst wie aus Fetzen zusammengenäht. Grey spielt mit harten Schnitten, mit Glockenspiel, Blechgedonner, rasender Rhythmik und mit Hornfanfaren, die das Mark durchdringen. Zwischendurch komponiert er tonal (was schon fast gewagt ist), dafür aber stets in Momenten, die dadurch umso trügerischer wirken – ein Effekt, den Dirigent Bassem Akiki mit seinem hellwachen Orchestre Symphonique und dem Chor de la Monnaie sensibel herausarbeitet.
Es ist währenddessen die Geschichte des Romans, die sehr originalgetreu über Videoeinspielungen und kurze Sequenzen auf der Bühne wiedergegeben wird, doch verschwindet die digitale Aufnahme mehr und mehr vom Podium und macht Platz für das realere Geschehen auf der Rampe. Der Prozess um die vermeintliche Mörderin des Jungen Justine (Hendrickje van Kerckhove) ist eine der bewegendsten Szenen dieser Oper, der die Kreatur wie die Forscher zwar tatenlos, im Gegensatz zu ihnen jedoch keineswegs unberührt zusieht. Überhaupt ist das „Monster“ in Greys Oper und der Inszenierung von Àlex Ollé (La Fura Dels Baus) eine faszinierende, schillernde Figur. Lehtipuus hellweicher, beweglicher Tenor, der durch die mitunter hochvirtuosen Koloraturen und lyrischen Bögen nahezu gleitet, verleiht seiner Figur eine androgyne Eleganz, seine Art sich zu bewegen eine leise Verletzlichkeit. Das hier ist kein bedrohlicher Hüne, die Kreatur ist im Gegenteil so viel menschlicher und empathiefähiger als die Welt, in der sie nun schon zum zweiten Mal erwacht ist.
Vielleicht muss eine Oper über „Frankenstein“ ja selbstreferenziell sein, vielleicht kann sie gar nicht anders. Die beiden Vorgänger – von Gordon Kampe in Berlin und von Jan Dvorak in Hamburg – waren es nicht minder, es ging immer irgendwie auch um die Form der Oper selbst: Beide fanden, wie auch diese, in einem amphitheatralischen Setting statt, bei dem der Raum und seine Zuschauer selbst zum Thema wurden. Beide spielten, wie auch diese, mit der Musik und dem Gesang als Bruchstücke eines kunstvoll-künstlich zusammengesetzten Organs. Und immer ist da der groß inszenierte Stromstoß, der das träge zusammengestückelte Kunst-Wesen für einen gewissen Zeitraum zum Leben erweckt. Unerlässlich ist dabei der „Blick auf den Blick“, aus sich selbst herausgetreten gewissermaßen, wie es auch Caspar David Friedrich in seinen Gemälden tat.
200 Jahre nach Erscheinen des Romans blickt nun eine postmoderne Gesellschaft auf die Inszenierung einer postmodernen Gesellschaft, die auf den Grusel eines wissenschaftlich-göttlichen Potenzials blickt – und distanziert sich intuitiv davon. So machen sich auch die weißgekleideten Wissenschaftler in Greys Oper am Ende wieder auf den Weg, schießen noch ein Foto, verschwinden durch unsichtbare Türen von der Bühne. Allein der Chef-Forscher Walton (Andrew Schroeder), der in Shelleys Roman bei einer Erkundungstour über den Nordpol Victor aufgreift und seine Geschichte festhält, bleibt noch einen Moment bei der Kreatur auf der Bühne. „Unnamed things remain silenced“, singt er, „hiding behind all sense, partaking in life as if uninvited“ – Ungenanntes bleibt stumm, versteckt sich hinter allen Sinnen, nimmt am Leben teil, obwohl es unerwünscht ist. Der Kreatur nimmt er die Metallkontakte vom Kopf, durch die der lebensschenkende Strom floss, sie sehen sich in die Augen. Dann sackt sie leise in sich zusammen, Versuch beendet, Versuch gescheitert. Am Ende ist es ja doch nur eine Geschichte? Was für ein Fehlschluss.