Es ist ein Stück avanciertes Musiktheater, das dezidiert auf der ästhetischen Autonomie des Kunstwerkes besteht und den Rezipienten in die Pflicht nimmt. Es ist politisch, aber nicht platt oder tagesaktuell. Die Musik von Leuschner ist anspruchsvoll, aber nicht verschreckend. Sie knüpft an erinnerbar Bekanntes an, lotete auch technisch Grenzen aus, gibt nicht alle Geheimnisse preis, ist so theaterwirksam wie singbar und als Performancevorlage geeignet.
Zwischen Vergangenheit und Zukunft
Dabei sind die Verweise auf die Verwerfungen der Gegenwart so wenig zu übersehen, wie die Bezüge auf die Geschichte des Genres zu überhören sind. Hannaks Bühne ist dem Saal der Nürnberger Prozesse nachempfunden, was spätestens dann klar wird, wenn im Hintergrund zwei GIs auftauchen. Eine mittlerweile erprobte Art, Zeit zum Raum werden zu lassen – und umgekehrt. Der Adler, von dem im Text die Rede ist und der als eine Art Überstaat seine fordernden Wahrheiten in Form eines Sprechchores auf das Gewimmel zu seinen Füßen raunt, scheint dem Bundestag entflogen.
Als golden glänzendes Monster klingt Maren Engelhardt mit nachhallendem tiefen Mezzo wie ein grunzendes Raunen aus finsteren Urtiefen und sieht mit ihren vergoldeten Schnellfeuerwaffen vor der Brust aus wie eine Sience-Fiction-Version des Mammon aus dem „Jedermann“. Auch der Habitus des sonderbaren, am Ende die Bewaffnete im Stück ermordenden Wissenschaftlers Doktor Interelektro spielt mit Bildern, die sich aus Erinnerungen an Kommune-Ikone Langhans, Einstein und den Gegenspielern von James Bond speisen. Der Mann ist bei der Max-Planck-Gesellschaft rausgeflogen, weil er behauptet hatte, es würde intelligentes Leben auf der Sonne geben. Der Österreichische Altist Bernhard Landauer changiert dafür zwischen sympathisch in sein heimatliches Idiom gleitenden gesprochenen Passagen und seinem zielgenau aufblitzenden Gesang.
Doch die Irritation in der Wahrnehmung, die per se zur Wirkung von Kunst gehört (Menschen singen in der Regel nicht, wenn sie miteinander reden, über etwas nachdenken oder in einen emotionalen Ausnahmezustand geraten), ist hier auch noch ausdrücklich in das Personaltabelau eingeschrieben. Kein „Einstein on the beach“, aber „in the opera“ sozusagen. Mit einigem Sience-Fiction-Ehrgeiz (und Erfahrung) ausgestattet wie der Autor Dietmar Dath, kann man schon auf die Idee kommen, mit der Relativität von Zeit produktiv zu zündeln. Und der Sekundenbruchteilexistenz von Blitzen Intelligenz unterstellen, sie als Störung in das Zeitempfinden der Menschen fahren zu lassen und den Versuch zu starten, mit ihnen zu kommunizieren. Das klingt nicht nur kompliziert gedacht, das ist auch in der Ausführung nur mit einiger Anstrengung nachzuvollziehen.
Dabei leistet die szenische Umsetzung eine gewitzte Hilfestellung. Wenn die in Gestalt von Bassbaritonistin Sam Taskinen und fünf ebenfalls von Deva Schubert perfekt durchchoreografierten personifizierten Blitzen durch die Szene zucken und die elektronisch verfremdete Stimme Taskinens umspielen, dann ist der Rest eingefroren. Der alte Trick, um turbulenten Szenen separierte Arienwirkungen unterzujubeln, funktioniert auch nach vorn, in die surreale Groteske gedacht, ganz fabelhaft.
Ermittlungen in der Dystopie
Sofern sich in dem Ganzen eine Art Handlung aufspüren lässt, geht es um „Ermittlungen“ gegen den Geldspieler. Bei der fabelhaften Schauspielerin und Sprachperformerin Rachel Weiss wird daraus eine Showmasterin die mit Hella-von-Sinnen-Habitus, die allemal den Mittelpunkt bildet, wenn sie die Szene betritt. Und die sich kein bisschen von den beiden Ermittlerinnen (die Sopranistinnen Mengqi Zhang und Clara Soyong Lee teilen sich die Rolle sogar satzweise!) in ihrem Was-kostet-die-Welt-Selbstbewusstsein à la Elon Musk beirren lässt.
Das liegt in diesem Fall nicht nur an den durchweg fantasiereichen Kostümen von Miriam Grimm, sondern auch daran, dass der Autor den Geldspieler reichlich mit Wortwitz versehen hat. Etwa: „Der Staat, nett, ich seh ihn so selten. Was will er?“ oder „Wenn ich auf mein Geld steige, kann ich den Staat da unten gar nicht mehr erkennen.“ Und weil sie eine Bewaffnete, Caroline Melzer als Assistentin für alles (vom heimlichen Mord bis Teezubereitung), an ihrer Seite hat.
Der Geldspieler (hier eine Geldspielerin, aber das spielt mal keine Rolle) verkörpert gleichsam in Person die Frage nach dem Geld. Die kann man in einem Text der ein paar handbreit über Wissenschaft und Politik schwebt, aber beides doch noch im Blick hat, gut und gerne als die Systemfrage im Kapitalismus ansehen. Sie wird verhandelt, aber auch zweimal ganz direkt gestellt.
Zum Auftakt fragen die Ermittler den Geldspieler „Was treiben Sie mit Ihrem Geld?“. Und sie wollen es tatsächlich wissen, folgen dem Befragten in den Untergrund geheimer Forschungsaktivitäten mit systemsprengendem Potenzial. Es gehört zu den geradezu anheimelnden musikalisch szenischen Höhepunkten des pausenlosen 100-Minuten-Abends, wenn die Computerarbeitsplätze des obskuren Untergrundlabors von Doktor Interelektro wie ein Nibelheim von Übermorgen aus der Versenkung hochfahren und bei GMD Francesco Angelico und den Musikern des Staatsorchesters Kassel samt allen raffiniert verfremdenden Ergänzungen auch so wie das Hämmern der Nibelungen aus dem „Rheingold“ klingen.
Am Ende der „Ermittlungen“, die immer wieder vom rechten Erkenntnisweg ins raunend Assoziative abkommen, sind wir möglicherweise klüger oder zumindest sensibler. Vielleicht auch erst mit einer Zeitverzögerung. Aber die zentrale Frage „Was treiben Sie mit Ihrem Geld?“ taucht am Ende noch einmal auf. In den Übertiteln ist sie in dieser ursprünglichen Form durchgestrichen. Die korrekte Version lautet jetzt „Was treibt Ihr Geld hier mit Ihnen?“ Damit wird sozusagen eine Klammer geschlossen und die Gretchenfrage des Kapitalismus, an den Einzelnen zurückgegeben.
Dank der Übertitel wird einem diese dialektische Pointe des Textes nicht entgehen. Beim Nachdenken über diese Frage, kommt man dann vielleicht doch darauf, dass trotz allem der hier verhandelte dystopische Fortgang der Geschichte nur eine ihrer Optionen ist. Zur bevorstehenden docmenta jedenfalls liefert die Oper in Kassel mit dem „Einbruch mehrer Dunkelheiten“ einen Beitrag, der die Vitalität des Genre überzeugend belegt. Inklusive der Irritationen, die offene Fragen so mit sich bringen.