Foto: Die Götter bitten zum Maskenball: Donner (Olaf Haye), Freia (Melanie Kreuter), Froh (Lianghua Gong), Fricka (Sarah Kuffner). © Bettina Stöß
Text:Detlef Brandenburg, am 4. März 2018
Götz-Friedrich-Preisträgerin Mizgin Bilmen inszeniert in Bielefeld ein sehenswertes „Rheingold“ – ein ganzer „Ring“ ist aber leider nicht geplant.
Das erste Bild ist stark: Auf dem Eisernen Vorhang im Bielefelder Theater erscheint die Projektion einer Schlange, die sich in den Schwanz beißt: ein Ouroboros, das Symbol einer in sich kreisenden Lebensform. Wenn der Eiserne dann mit Warn-Piep-Piep und orangem Kreisel-Lichtern an der Seite hochfährt, erscheint die „Tiefe des Rheins“ als düsterer Bunker oder Hangar, überwölbt von nach hinten fluchtendem Betonfachwerk. Nebel wallt, auf dem Boden regt sich wellenförmig graues Körper-Gekröse, lemurenhafte Gestalten, wie gehäutet, die dunklen Adern deutlich sichtbar. Wer sind die? Dahinvegetierende Überlebende einer Katastrophe? Folgt Wagners Ur-Anfang in Es-Dur also auf ein Ende? Wären die Götter des „Rheingolds“, „die so stark im Bestehen sich wähnen“ und doch nur „ihrem Ende zueilen“ – so charakterisiert der listige Loge sie am Ende dieses „Vorabends“ zum „Ring des Nibelungen“ –, wären sie also nur die Nachfahren einer untergegangenen Welt? Dieses In-Sich-Kreisen würde zum Schlangenkreis jedenfalls sehr gut passen.
Tatsächlich verzeichnet das Programmheft diesen Bewegungschor als „Erdlinge“; damit wäre er Erda zugeordnet, der Urmutter aus tiefer Vorzeit, die in der dritten Szene aus seiner Mitte aufsteigt. Aber so einfach ist die Sache dann doch nicht in Mizgin Bilmens „Rheingold“-Inszenierung. Die Regisseurin, 1983 in Duisburg geboren und 2017 für ihre Regie in Marc-André Dalbavies Oper „Charlotte Salomon“ eben hier, am Bielefelder Theater, mit dem Götz-Friedrich-Preis ausgezeichnet, macht dieses Kollektiv zu einem Hauptakteur der Handlung. Es verkörpert das leuchtende Rheingold und den fatalen Ring, den Hort und den Tarnhelm und bei Gelegenheit natürlich auch die Nibelungen. Klingt für den Leser jetzt vielleicht ein bisschen komisch, funktioniert für den Zuschauer aber erstaunlich gut, sogar bei den märchenhaften Tarnhelm-Verwandlungstricks in Nibelheim, und ja, es wirkt sogar sinnstiftend. Tatsächlich beruht Alberichs Macht und die daraus erwachsende Gefährdung für Wotan und seine Sippe ja darauf, dass der Zwerg durch seinen Ring in der Lage ist, sich jeden gefügig zu machen und dadurch seiner Individualität zu berauben. Es ist die von Alberichs Gold beherrschte Masse, die die Götter, selbstherrliche Individualisten par excellence, bedroht.
Schade ist nur, dass das bei Mizgim Bilmen nur eine Bild-Idee bleibt, die aber nicht wirklich zur Basis ihrer Inszenierung im großartigen Bühnenbild von Cleo Niemeyer wird – letzteres erinnert tatsächlich entfernt an Peter Sykoras „Time Tunnel“ in Götz Friedrichs Berliner Epochen-„Ring“ an der Deutschen Oper, ein Tunnel, der von den vorzeitlichen Sagengestalten direkt in die Gegenwart führte. Möglicherweise hatte das Bielefelder Regieteam Ähnliches im Sinn. Jedenfalls irrlichtern immer wieder Videos von sputnic (Malte Jehmlich) durch diesen Hangar, Videos von den Kriegen, den Kriegstoten und den Flüchtlingen unserer Tage. Aber sie wirken aufgepappt auf ein Bühnengeschehen, das sich in seiner schönen Bildlichkeit zu keiner Gegenwart wirklich zielgenau verhält. Die Götter beispielsweise denunziert der Kostümbildner Alexander Djurkov Hotter als geckenhafte Selbstdarsteller in blendend weißen Fantasy-Kostümen, als kämen sie gerade von einem überdrehten Maskenball: Wotan in schneeweißem Pelz-Soldatenmantel mit brillantglitzernder Offiziersmütze, Fricka als sexy Lady in Hot Pants, Stiefeln und modischem Turban, Froh mit weißem Federkopfputz, und Freia trägt den Baum mit den goldenen Äpfeln als Bonsai in einem erleuchteten Gewächshaus-Tornister mit sich herum, aus dem die Götter von Zeit zu Zeit beatmet werden, damit sie nicht dahinwelken.
Schon klar: Sie sind Luxusgeschöpfe, künstlich am Leben erhalten durch eine ausgebeutete Natur. Aber mit solchen wohlfeilen Stereotypen bleibt die Inszenierung nicht nur hinter ihren eigenen Möglichkeiten zurück, sondern auch weit hinter Wagners historisch und sozial überaus differenziertem Gesellschaftsbild. Und dass die Riesen, doch eigentlich Baumeister der Burg, in Soldaten-Drillich und mit überlangen Totschießflinten aufmarschieren, ist auch nur so eine Idee. Man kann mit den Schießprügeln prima herumfuchteln und bestens paradieren, letzteres passt ja auch zum wuchtig marschierenden „Riesen-Motiv“. Aber was soll uns das sagen? Bilmen und ihr Team gestalten die Bilder, Tableaus und die Personenführung ebenso artifiziell wie gekonnt. Aber semantisch erzählen sie die Geschichte eher konventionell unter Hinzuziehung einschlägiger Klischees.
Alexander Kalajdzic, sei 2010 Generalmusikdirektor in Bielefeld, entwickelt das musikalische Geschehen konsequent aus einem strukturell ausgesprochen plastisch konturierten und vom Orchester sehr gut präsentierten Klangbild, Tempo und Agogik folgen minutiös der Rhetorik der Dialoge und der Dramaturgie der Handlung. Dabei hat er immer ein offenes Ohr dafür, was seine Schützlinge auf der Bühne brauchen – und für das, was sie können. Dass mir in Bielefeld ein derart hochklassiger Loge begegnen würde, hätte ich nicht gedacht. Gut: Alexander Kaimbacher ist ein Gast – aber den muss man ja auch erst mal bekommen. Er singt den Desperado-Schlawiner in höheren Diensten mit kraftvoll-klarem, dabei bemerkenswert flexiblem und rhetorisch agilem Tenor und spielt ihn mit einer windigen Brillanz, dass auch das Zuschauen eine Lust ist.
Überhaupt: Es war der Abend der Tenöre: Als Mime hat Lorin Wey einen ganz starken Auftritt, mit schöner, in einigen Passagen angenehm lyrischer Stimme. Stark auch das gut harmonierende Rheintöchter-Trio mit Nienke Otten, Hasti Molavian und Nohad Becker, angenehm jugendfrisch die Fricka der Sarah Kuffner. Nicht ganz so stark waren bei der Premiere die tiefen Männerstimmen: Yoshiaki Kimura produzierte als Alberich leider nur kraftvoll gestemmte, aber rhetorisch sinnfreie und unterartikulierte Töne; und Frank Dolphin Wong artikulierte als Wotan zwar wesentlich klarer, aber seinem hartem Bariton fehlte die warmfließende Fülle, die so einem Göttervater nicht schlecht anstünde – beispielsweise um der Sonne abendlich strahlendes Auge zu preisen. Auch Moon Soo Parks Fasolt blieb zu hart und rau, um die Zuhörer von seiner entflammten Liebe zu Freya zu überzeugen, während Sebastian Pilgrims den Fafner vokal angemessen markig und schauspielerisch auffällig präsent gab. Als Erda mit irisierend hellem Timbre hatte Katja Starke einen ganz großen Auftritt.
Tja – und eigentlich hätte man jetzt ja gern gewusst, wie Mizgin Bilmen mit ihrem Setting an den folgenden Tagen von Wagners „Bühnenfestspiel“ über die Runden kommt und ob sie dabei noch zu größerer thematischer Dringlichkeit und Genauigkeit findet. Vorstellbar wäre das durchaus. Aber erleben werden wir’s nicht. Denn mit dem „Rheingold“ ist es schon wieder vorbei mit dem Bielefelder „Ring“ – insofern war der Ouroboros zu Beginn nur ein leeres Versprechen. Aber immerhin: Diese Premiere reiht sich eindrucksvoll in eine Reihe von Bielefelder Produktionen mit jungen, gerade erst entdeckten, ambitionierten Regisseuren, die durch Mut und Talent auf sich aufmerksam machen. Florian Lutz war einer von ihnen – heute setzt er sich als Intendant an der Oper Halle für das zeitgenössische Musiktheater ein. Oder Paul-Georg Dittrich, schon zwei Mal zum Deutschen Theaterpreis DER FAUST nominiert, der in Bielefeld einen beachtlichen Verdi-„Otello“ herausbrachte. Darum mein Tipp, wenn demnächst wieder die neuen Opern-Spielpläne herauskommen: In Bielefeld lohnt es immer, ein bisschen genauer hinzuschauen!