Foto: Ensembleszene © Matthias Jung
Text:Ulrike Kolter, am 12. März 2023
Es war nur eine Frage der Zeit, bis Lars von Triers Filme ihren Weg auch ins zeitgenössische Musiktheater finden würden, nachdem es im Schauspiel schon eine regelrechte Adaptionswelle gegeben hat. Vor allem „Dogville“ von 2003 – gedreht auf minimalistischer und komplett einsehbarer Probebühne – ist im Stil von Brechts epischem Theater prädestiniert für die Bühne; schon Volker Lösch in Stuttgart (2005), Karin Henkel in Frankfurt (2014) oder Bastian Kraft in Köln (2014) haben sich daran abgearbeitet.
Es brodelt mit Schlagwerk und Säge
Nun also eine Oper. Hein Mulders, ehemaliger Intendant des Essener Aalto-Theaters, hatte den Kompositionsauftrag an Gordon Kampe herangetragen, der das gefundene Fressen sofort erkannte und eine „Dogville“-Oper in 18 Szenen zum Libretto des stark gekürzten Filmskripts schrieb: In Originalsprache, ohne den allwissenden Erzähler des Films, dafür mit kurzen, repetitiven Phrasen und operntauglicher Emotionalisierung als Ensembleoper für 14 Sänger:innen. Aus dem Graben brodelt und peitscht es unter der Musikalischen Leitung von Tomáš Netopil – groß besetzt mit viel Schlagwerk, einer Säge und düsteren es- und h-Moll-Akkorden, die in Intermezzi den Szenen zwischengeschaltet sind und all das drohende Unheil musikalisch antizipieren.
So düster es klingt, so ist es auch, das Leben im wirtschaftskrisengebeutelten Dogville, in dem eines Tages die hübsche Grace auftaucht und Zuflucht vor Gangstern sucht. Tom, Hobby-Schriftsteller und Moralapostel des Dorfes, will sie verstecken, muss die Gemeinschaft allerdings um Einverständnis bitten. Nach anfänglicher Skepsis werden Grace zwei Wochen Probezeit gewährt, in der sie als Gegenleistung niedere Hilfsdienste erbringen soll. Was sich im Film über drei beklemmende Stunden hinzieht, ist hier auf 100 Minuten Sozialstudie verdichtet: Die zunächst zögerliche, dann offenherzige Integration der Fremden kippt – ziemlich genau in der Mitte der dramatischen Kurve – um in offenen Hass, Gewalt und Missbrauch. Bis sich Grace für ihre Erniedrigungen bitterlich rächt…
Ein 57 Meter-Bühnenwagen mit Räumen
Die Bühnenkonstruktion von Jo Schramm führt uns Grace‘ Leidensweg durch alle Zimmer der Dorfbewohner vor Augen: Wo im Film einzig Kreidezeichnungen am Bühnenboden die Wände markieren, sind hier alle Räume linear in einem 57 Meter (!) langen Bühnenwagen aufgereiht, der stetig von links nach rechts sich empor schiebt und auf dem sich Grace vorwärtskämpfen muss. Von Pappwänden begrenzt und mit wenigen Möbeln bestückt, bleibt der Schauplatz spartanisch und auf das Kammerspiel der Bewohner Dogvilles fokussiert. Regisseur David Hermann hat sie, ganz wie Gorden Kampe in seiner Partitur, zu eigenwilligen Typen stilisiert, denen Tabea Braun recht heutige Kostüme verpasst hat.
Da ist Tom Edison Junior, den Tobias Greenhalgh in Jeans und Basecape als Möchtegern-Strippenzieher gibt, obwohl er Grace‘ Charisma hoffnungslos ausgeliefert ist. Da ist der fiese Familienvater Chuck in Latzhose und Holzfällerhemd, dessen schrill exponierte Partie Heiko Trinsinger mit stimmgewaltiger Brutalität meistert. Seine Frau Vera (Marie-Helen Joël) ist, stets geduckt, an sein Herumschubsen gewöhnt und Ma Ginger (Almuth Herbst), die Dorfmutti, muss ihrem Ordnungszwang durch endlos repetitive Phrasen Ausdruck verleihen.
Sein beachtliches Hausdebüt am Aalto gibt der junge Countertenor Etienne Walch als Bill Henson, von den zahlreichen Solist:innen überzeugen ebenfalls: Maartje Rammeloo als dessen reizvolle Schwester Liz Henson, Alice Lackner als Kirchenglocken-läutende Martha, Christina Clark (Olivia), Rainer Maria Röhr (Ben) und der Bass Andrei Nicoara in der Rolle des blinden Jack McKay, dem Gorden Kampe eine dankbare Partie auf den Leib geschrieben hat: ruhig und fast melodiös, ein wohltuender Gegenpol zur flirrenden Hektik der Komposition.
Die herausragende Lavinia Dames macht als Grace auch die größte musikalische Entwicklung durch, wird vom zaghaften Mädchen zur eiskalten Mörderin, eine konditionelle wie darstellerische Meisterleistung – bis sie im Finale zu Gangster-Papa (famos, der Bariton Karel Martin Ludvik) ins Auto steigt und beide dialogisch die Moral von der Geschicht‘ verhandeln.
Mit „Dogville“ hat der eloquente und gut im Geschäft stehende Komponist Gordon Kampe, ein konsumables Stück Musiktheater geschrieben, dessen Klangkosmos den brutalen Verfall eines vermeintlich zivilen Kollektivs meisterlich abbildet. Warum nur, fragt man sich, geht das stellenweise nicht ein bisschen melodiöser? Gerade bei einem der in kurzen, sehenswerten Youtube-Videos die Bedeutung des Liedhaften für die Neue Musik hervorhebt? Vielleicht, weil es in diesem „Dogville” letztlich nichts zu beschönigen gibt.