Eine legendäre Musiktheater-Version des eigentlich schwer zu dramatisierenden Romans stammt von Komponist Gottfried von Einem, der heute auf den Spielplänen nicht sehr präsent ist. Sein gleichnamiges Musiktheater kam vor 70 Jahren zur Uraufführung und ist nun bis kurz vor Weihnachten in einer Produktion des MusikTheater an der Wien in der Spielstätte Kammeroper am Fleischmarkt zu sehen, inszeniert vom Hausherrn Stefan Herheim.
Bevor sich der Vorhang hebt, kommt der Intendant auf die Bühne, was meist ja nichts Gutes bedeutet, und heißt das Publikum launig willkommen zur Generalprobe dieser Neuproduktion. Bitte? Richtig gehört, die eigentliche Generalprobe war, wie es üblich ist im Oper-Genre, zwei Tage vor der Premiere angesetzt und musste ausfallen, weil es zu viele Krankheitsfälle im Ensemble gab. Corona, Grippe, was auch immer. Aber Herheim ist nicht nur als Regisseur ein Draufgänger und wagt eine Premiere im Generalprobenzustand. Er bittet aber darum, man solle angesichts der Umstände bitte nachsichtig sein, wenn es holpere auf der Bühne. Danach nimmt er sichtlich angespannt im Zuschauerraum Platz.
Cleveres Libretto
Tatsächlich ist der Produktion nichts Unfertiges anzumerken. Der gesamte, famose Cast klingt frisch und gesund. Und das wie gewohnt von Herheim minutiös durchchoreografierte, in hohem Tempo durchgetaktete Geschehen schnurrt gespickt mit hintersinnigen Verweisen perfekt ab.
Von Einems Librettisten Boris Blacher und Heinz von Cramer haben aus Kafkas mäanderndem Roman-Fragment ein cleveres Libretto gebaut, das mit schnellen Szenenwechseln arbeitet und wie eine Revue aufgezogen ist. Von Einems Partitur ist ein Parforce-Ritt durch die neuere Musikgeschichte mit unverhohlenen Reminiszenzen an Wagner („Walküre“), Strauss („Ariadne“) und Puccini („La Bohème“). Es blitzen Jazz-Momente auf und Anleihen an die Zwölftontechnik, stampfende Rhythmen à la Strawinsky und vieles mehr. Die Gesangspartien sind anspruchsvoll, verlangen Lyrismen wie Dramatisches, Sprechgesang und Couplet-Charme.
Auf der kleinen Bühne der Kammeroper sitzt hinten das Klangforum Wien mit Mitgliedern der PPCM Academy wie ein Salonorchester. Silke Bauer hat davor einen Raum gebaut, der mit einem Kruzifix an der Wand halb Schlafzimmer, halb Salon ist. Ein Klavier an der Wand traktiert immer wieder robust Josef K. alias Gottfried von Einem. Auf einem Hintergrundprospekt ist das Panorama der Festspielstadt Salzburg zu sehen, später blenden Videos Aufnahmen aus dem Festspielbezirk ein.
Kafkaesk turbulent
Stefan Herheim holt einmal mehr den Komponisten selbst als eigentliche Hauptfigur auf die Bühne, um dem Geschehen eine das Entstehen des Kunstwerks selbst reflektierende Ebene einzubauen. Außerdem geistert noch Kafka selbst (der Schauspieler und Tänzer Fabian Tobias Huster) über die Szene.
Das restliche Personal aus Bürokraten, Advokaten, Kanzlei-Menschen und Nebenfiguren ist mal mehr, mal weniger bekleidet. Der kleine Cast verkörpert oft mehrere Rollen. Zu sehen sind Büro-Uniformen der Kafka-Zeit, aber auch sakrale Opulenz (der Geistliche im Bischofs-Ornat) und Alltagskleider der 1950er Jahre. Es gibt Fetisch-Anspielungen (rote Netzstrümpfe unterm Messgewand), Reizwäsche (Corsage und Strapse), allgegenwärtig ist Josef K.s beziehungsweise Gottfried von Einems weißer Pyjama, in dem der Held immer wieder ins Bett verschwindet.
Das alles ist in der schnellen Szenenfolge höchst unübersichtlich, aber von üppigem Schauwert, man kann sich kaum sattsehen. Auch musikalisch bietet der Abend ein hohes Niveau. Walter Kobéra leitet das Kammerorchester umsichtig, ohne zu sehr auf Effekt zu setzen. Das hervorragende Ensemble wird überstrahlt von Robert Murrays gut ansprechendem, flexiblen und höhensicheren Tenor als Josef K., Anne-Fleur Werner ist „Die Frau“, die mit hohem Körpereinsatz und brillant geführtem hohem Mezzo für Furore sorgt, alle weiteren Partien sind perfekt besetzt. Das Publikum zeigt sich uneingeschränkt begeistert von einem unterhaltsamen Abend. Kafkaesk turbulent. Bleibt zu erwarten, dass die Produktion nach dieser „Generalprobe“ noch besser wird.