Was Emre Akal im Auftragswerk des Schauspiel Leipzig aufgreift, ist längst Realität, zum Beispiel in der Koreanischen TV-Show „Meeting You“, die Wiedersehen mit geliebten, verstorbenen Personen durch Avatare möglich machte. Auch in den Schreibprozess von „Goldie“ hat Akal mit KI-Programmen wie ChatGPT und Bing gearbeitet.
Das Publikum in der Diskothek des Schauspiel Leipzig wird Zeuge des Experiments auf der Bühne: In einem Greenscreen-Raum, mithilfe von Motion-Capture und Face-Tracking (Wenzel Banneyer und Nicole Widera) wird Murat auf Basis seiner digitalen Hinterlassenschaft als Avatar zum Leben erweckt (Bühne und Kostüme: Sabine Born; VR-Design und Programmierung: Paul Schengber, Emma Chapuy). Mit einer VR-Brille kann seine Freundin (Alina-Katharin Heipe) so in alte Erinnerungen eintauchen.
Erinnerung versus Realität
Akal wirft einen kritischen und gleichzeitig humorvollen Blick auf den digitalen Abdruck von Menschen, KI und auch den kapitalistischen Aspekt eines Startups wie „Eternity“. Nachdem sich Murats Freundin über die 30,99 € für die gemeinsame Regenerinnerung aufregt – „es ist doch nur eine läppische Regenerinnerung“ – kostet diese „läppische“ Erinnerung gleich 40,99 €.
Doch auch in der Simulation bleibt eine Befriedigung aus. Die gemeinsamen Erlebnisse driften von der eigenen, subjektiven Erinnerung ab. Der Avatar ist eine unvollständige Version und schon durch Murats eigene, digital abgespeicherten Notizen anders als in der Vorstellung seiner Freundin. Das stimmt doch so alles nicht, denkt sie, also nochmal von vorne für 20,33 €.
Goldie (UA). Auf dem Bild: Avatar, Wenzel Banneyer, Nicole Widera, Alina-Katharin Heipe © Rolf Arnold
Vermittler zwischen Digital und Analog, zwischen Experiment und Publikum ist Goldie (Niklas Wetzel) als geistreicher und witziger Erklär-Hamster und weiterer Blick auf das Paar aus Haustier-Perspektive. Für das Publikum kommentiert er das Geschehen und überträgt die Selbstreflexion der Figuren auf die Zuschauenden. Wann ist ein „Ich“ noch ein „Ich“ in einer Beziehung und kann es ein „Wir“ nicht nur aus der jeweiligen Vorstellung von zwei „Ichs“ geben?
Tiefgründiges Live-Experiment
Geschickt wechselt das Bühnenbild dabei zwischen der Greenscreen-Studio-Simulation und der Projektion dessen, was durch die VR-Brille zu sehen ist, während Goldie immer wieder in der Szenerie herumhüpft, sie stört und enttarnt. Und Murats Freundin erlebt sozusagen eine doppelte Enttäuschung, wird mit ihrer subjektiven Erinnerung und den Grenzen der virtuellen Welt konfrontiert.
Akals Stück berührt durch die Verdeutlichung des Verlusts von geliebten Menschen. In „Goldie“ beleuchtet der Regisseur die Möglichkeiten von KI, die ganz neue Dimensionen eröffnen, natürlich auch real aber nicht unendlich sind. Schon ganz ohne virtuelle Welt weicht die eigene Vorstellung immer von der anderer ab. Und so wie Murat ihr durch die VR-Brille erscheint, will ihn seine Freundin nicht.
Und schließlich beginnt in der Inszenierung selbst Murats Avatar seine eigene Existenz zu hinterfragen: „Wenn sie geht, gibt es mich dann noch?“ Für weiterführende Fragen gibt der Abend viele Denkanstöße: Wie existiert jemand nach dem Tod weiter? Wer bin ich in der eigenen und gemeinsamen Vorstellung mit anderen? Und wie real sind unsere Erinnerungen? 79,90 € für die Wahrheit.