Johan Simons erzählt das im Zentrum klar und kleinteilig, an den Rändern, in den Nebenhandlungen, bewusst mit groben Pinseln. Im Wesentlichen werden die Parketttüren und der vordere Bereich der Bühne bespielt. Rot als bestimmende Farbe der Kostüme von Britta Brodda und Sofia Donazio Brockhausen gibt der Gesellschaft der Befristeten etwas Sektiererisches, entfernt sie von uns. Wir sehen einer Art Versuchsanordnung zu, der etwas Provisorisches anhaftet.
Das mag natürlich auch der Tatsache geschuldet sein kann, dass Johan Simons und sein Team die Aufführung kurzfristig aus dem Boden gestampft haben, ihnen keine üppige Probenzeit zur Verfügung stand. Was man dem Spiel des neunköpfigen, von Stefan Hunstein (50), Elsie de Brauw (sein Freund) und Jing Xiang (Kapselan) angeführten Ensembles übrigens abgesehen von kleinen Textunsicherheiten in keiner Weise anmerkt.
Aber warum wählt man heute in dieser Situation dieses selten gespielte, 60 Jahre alte Stück? Eine denkbare Verbindung ist der Konsens-Opportunismus, der die „Befristeten“-Gesellschaft zusammenhält und dann in eine Tyrannei der Masse umkippt. Das lässt schon an die ersten Corona-Wochen denken, in denen Abweichungen von der herrschenden Meinung etwa in den sozialen Netzwerken extrem hart mit Massenbeschimpfungen bestraft wurden.
Was bleibt von diesem Abend, neben der tanzenden Technik und der Freude darüber, dass ein großes Theater wieder spielt, was sich wirklich einprägt, ist vor allem ein Bild: Nachdem die Artikulation seiner Zweifel folgenlos geblieben ist, der Kapselan 50 zum Widerruf gezwungen und so zum Außenseiter gestempelt hat, sitzt Stefan Hunstein plötzlich allein auf dem Fragment einer Theatersesselreihe, die Maske vor dem Gesicht. Plötzlich Zuschauer. Und wir vorher nicht gerade in jedem Moment gefesselten Zuschauer erschrecken. Wir erschrecken alle. Es ist deutlich zu spüren im Raum.
Johan Simons setzt uns ein Gleichnis vor. Aber er bietet keine Deutung an, was bekanntlich eine Eigenheit seines Theaters ist. Wir müssen uns da selbst hinein- oder herausdenken. Sind wir, die Zuschauer, die Außenseiter, die Eindringlinge in die Welt des Theaters, nur Mittel zum Zweck, um die Kunstmaschinerie am Leben zu erhalten? Nicht mitbestimmendes Zentrum? Nicht mal ein bisschen? Haben wir auch außerhalb des Theaters nur die Wahl zwischen Pest und Cholera? Entmündigung durch Mitschwimmen in der Masse oder durch Stigmatisierung als irrelevanter Außenseiter?
Während wir uns dagegen noch wehren, geht das Spiel weiter. Der Kapselan kapselant nicht mehr. Jeder darf und muss sein Leben selbst gestalten. Dazu gehört auch die neue Verantwortung für und Macht über den Tod. So geschieht ein Mord, fast ein Sündenfall, und Simons lässt sich diesen erschreckend sanft ereignen. Der Horror ist am intensivsten in der Nähe.
Wir haben nichts Neues erfahren über die künstlerische Arbeit dieses Regisseurs an diesem Abend. Aber einiges zu denken mitbekommen.