Foto: Reality mit dem Ulmer Königsweg-Ensemble: Tini Prüfert, Silva Bieler, Rudi Grieser und Marie Luisa Kerkhoff. © Kerstin Schomburg
Text:Antonia Ruhl, am 27. November 2020
„Ich lass mir nicht von solchen Abturnern wie der Realität den Spaß verderben!“ – wie beiläufig auf der Nebenszene geäußert, ist dieser Satz gleichwohl symptomatisch für den Abend. Mag man ihn zunächst als trotzig-(schau)spielerisches Aufbegehren gegen die triste Corona-Realität deuten. Er verweist jedoch vor allem auf das zentrale Setting der neuen Ulmer Inszenierung von Elfriede Jelineks „Am Königsweg“: Wir befinden uns in einer Reality Show; die Farbe Gold und ein ebensolcher Thron dominieren die theatrale Arena, in der Challenges zwischen Dschungelcamp und Weltpolitik ausgetragen werden, bei denen man nicht das Leben, wohl aber das Gesicht verlieren kann.
Ein vordergründiger Spaß ist diese Angelegenheit keineswegs. Nicht erst seit der Trump-Präsidentschaft verschwimmen in der medialen wie politischen Sphäre die Grenzen zwischen Fiktion und Fakten, Realität und Reality. Die verhängnisvolle US-Wahlnacht 2016 veranlasste die Autorin Jelinek, sich dem neuen Twitter-„König“ und seinem – euphemistisch formuliert – freien Umgang mit der Wahrheit schreibend auszuliefern; die vielbeachtete Uraufführung erfolgte im Oktober 2017 durch Falk Richter am Deutschen Schauspielhaus Hamburg (siehe unsere Kritik). Hellsichtig und vielstimmig bringt Jelineks über 90seitiges Manuskript die Gefährdungen der Gegenwart und Zukunft zur Sprache; neben der der Autorin eigenen (Selbst-)Ironie durchzieht ein klagender, verzweifelter Ton die Textflächenspiralen, ein bitteres Resultat des eigenen gescheiterten Sprechens, das gegen die bedrohlichen politischen Entwicklungen nichts auszurichten vermochte.
Die Ära Trump ist aus dieser Sicht eine besonders unschöne, von Amts wegen einflussreiche (und deshalb beachtenswerte) Erscheinungsform. Auch nach der Abwahl ist es insofern von Interesse, das Stück aufzuführen. Das Ulmer Regieteam um den Nachwuchsregisseur Benjamin Junghans folgt dabei grundsätzlich einer weiteren Eigenheit dieses Theatertextes, der Vorliebe nämlich für das Überzogene und Groteske. Schließlich ist heute mehr denn je mächtig, bestimmt den Diskurs, wer die Show der Macht und ihre Spielregeln beherrscht, wer sich am lautesten bemerkbar zu machen weiß. Um das ausgewogene Denken, das kühle Argument ist es schlecht bestellt, wir erleben es täglich.
Ob dies der nachahmenswerte Königsweg ist, sollen die Zuschauer*innen in dieser als interaktiv angekündigten Livestream-Aufführung selbst entscheiden und sich ihren eigenen Weg durch den Faktendschungel bahnen. Vier unterschiedliche Kameraeinstellungen und die ihnen zugehörigen Audiospuren sind über die Dauer der Aufführung frei auswähl- und auswechselbar und ermöglichen die multiperspektivische Wahrnehmung sowie Einsicht in die Gleichzeitigkeit jener Vorgänge, die sich analog auf der und rund um die Ulmer Spielstätte Podium abspielen. Dem Jelinekschen Viel- und Mehrklang entsprechend, kann man eigenen Impulsen oder Assoziationen folgen und so das individuelle Seherlebnis zumindest mitgestalten (wenngleich man nicht im eigentlichen Sinn interagiert). Die herausfordernde hybride Anordnung funktioniert technisch einwandfrei (Video- und Stream-Technik: Andreas Usenbenz, Karlheinz Fohlert), wird durch die Beteiligten auf der Bühne hervorragend gemeistert und durch Theatermitarbeiter*innen via parallelem Publikumschat bestens betreut; überdies korrespondiert sie schön mit dem beschriebenen TV-Format.
Was passiert denn nun in der von Maike Häber optisch nach Trumps Penthouse eingerichteten Bühnenshow, in der „alles Gold ist, was glänzt“? Wie es sich für Leerlauf-lastiges Reality TV gehört: recht wenig. In Weiß herausgeputzt und mit billigen Perlen behängt, plaudern Rudi Grieser, Tini Prüfert und Marie Luisa Kerkhoff den Jelinek-Text, auf prachtvollen Barockstühlen fläzend und mit reichlich Champagner versorgt, mal aus sich heraus, lassen sich aber auch sehr ernsthaft auf die verwirrenden Denksprachspiele ein, wie Kamera Nummer Drei schön verfolgen lässt. Sie erfasst im Gegensatz zu Nummer Zwei nicht die gesamte Bühne, sondern zoomt stets an eine*n Darsteller*in heran.
Challenges mischen die Szenerie auf, einmal ist „für einen Schuss Vertrauen“ so richtig auf die Golfbälle (Boulekugeln?) „draufzuhauen“, später steigt Marie Luisa Kerkhoff mit ausgesuchtem Ekel in eine mit ebendiesen (jetzt Kot-)Kugeln gefüllte Badewanne. Für das obligatorische gegenseitige Bloßstellen, „private“ Geheule und beleidigte Schmollen gibt es Kamerabild Nummer Vier, das dem Ensemble erlaubt, sich auf einer güldenen Bank niederzulassen und dem Publikum beziehungsweise Kameraauge durch die Vierte Wand Mitteilung zu machen. Ziel der Show ist die Wahl eines neuen Opfers, das im Sinne der „Ödipus“-Deutung René Girards die vollständige Verantwortung für den Kreislauf der Gewalt und die Ausbreitung der Seuche übernimmt: „Die Krise will das Opfer“, heißt es unter anderem hintergründig.
„Gestöhn und Wirrnis, Tod und Schmach“ zu erkennen und benennen, bleibt dagegen der blinden Seherin überlassen. Silva Bieler, Nachwuchsschauspielerin aus der kooperierenden ADK Baden-Württemberg, bespielt die Einstellung Nummer Eins, die mehr verbirgt als enthüllt; wir sind in einem Point-of-View-Shot der Schauspielerin, die – wie später ersichtlich – eine sinnfällige Konstruktion aus silberglitzerndem Brillengestell und darüber montiertem Smartphone trägt. Ihr Blick auf die Welt ist düster und wispernd-mahnenden Weltenträtselungsversuchen hingegeben. Ob der Gestus der geheimniskrämerischen Wahrsagerin aber dem existenziellen Schmerz gerecht wird, den Jelinek aus der tragischen Krise des Denkens ableitet, mag man dann doch bezweifeln.
Auch verhindert die arg pointierte Reality-Setzung, das Jelineksche Panorama noch breiter aufzufächern (wie es allerdings im lesenswerten Begleitmaterial zur Inszenierung geschieht, Dramaturgie: Christian Stolz). Dazu hätte es über die verschiedenen Kameraeinstellungen hinaus weiterer Brüche und Spielsituationen bedurft, auch das unglückliche Abstandsgebot, das das Ensemble gut bewältigt, trägt maßgeblich dazu bei, das Bühnengeschehen überschaubar zu halten und nicht wirklich anzukurbeln. Vom Overload, von hyperkonzentrierten Momenten leben Jelinek-Inszenierungen aber genau wie von der Vielstimmigkeit. Die Regie nimmt mit dem klaren Fokus auf letzteres den Verlust des derzeit ohnehin schwer herzustellenden ersteren in Kauf. Nichtsdestotrotz ist dies ein ernsthaftes, kreatives und mutiges Experiment, und die größtenteils beglückten Publikumsreaktionen aus dem Chat teilt man liebend gern.