vorne ein Mann mit gelber Perücke mit einer Art Superheldenumhang, dahinter stehen viele Menschen, die Schilder mit der Aufschrift „Sicherheit ist ein Menschenrecht“ hochhalten

Zu viel ist nicht genug

Giuseppe Verdi: Otello

Theater:Staatstheater Darmstadt, Premiere:25.02.2024Regie:Paul-Georg DittrichMusikalische Leitung:Daniel CohenKomponist(in):Giuseppe Verdi

Otello“ als interaktives Computerspiel am Staatstheater Darmstadt. Regisseur Paul-Georg Dittrich fragmentiert das Stück, konstruiert neue Geschichten, holt die Handlung aus dem Privaten ins Öffentliche, lässt das Publikum mitmachen, kommt dem Stück dadurch aber nicht näher. Doch das will er auch gar nicht.

Alles beginnt ganz harmlos in einem Großraumbüro. Ablegen, abheften, abstempeln, ein paar Telefonate, ein kleiner Plausch: öder Büroalltag eben. Abwechslung für alle bietet da das neue Computerspiel „Otello. Total Empire“. Und während das volle Orchester den Sturm der Naturkräfte zeigt, den Aufruhr der Elemente, während die strikte Organisation der Musikmaterialien in reine Geräuschhaftigkeit übergeht, versammeln sich die mitspielenden Büroangestellten um ihre Laptops, um sich Avatare zu schaffen und mit der Kolonialisierung Zyperns zu beginnen. Doch dabei bleibt der Regisseur Paul-Georg Dittrich nicht stehen. Am Ende brennt die Welt, verschmelzen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und alle Gewissheiten sind über den Haufen geworfen.

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Gegenwelt

Angelehnt ist der neue Darmstädter „Otello“ an das Computerspiel „Empire: Total War“, bei dem die Mitspielenden die Kontrolle über eine Großmacht des 18. Jahrhunderts übernehmen. Es wird dann erobert und erweitert, kolonialisiert und kultiviert. Während im Vordergrund auf der Bühne die Spielfiguren vorgestellt werden und sich noch ungelenk wie eben solche bewegen, ist im Hintergrund auf einer Leinwand (Video: Lukas Rehm) die Landnahme in vollem Gange. Wer da gerade gegen wen kämpft, ist kaum auszumachen, aber wohl auch egal. Die Personen der Handlung werden erst vorgestellt und dann Wirklichkeit, sind erst Figuren auf der Leinwand, fahren dann aber auf Podesten aus den Tiefen der Unterbühne nach oben und dringen in die Welt des Büros ein.

Ein großer Bildschirm mit einer Computerspielfigur mit gelben Haaren, davor eine Gruppe von Menschen, die gebannt auf einen aufgeklappten Laptop schauen

Otello, Ensemble © Martin Sigmund

Mit Beginn des zweiten Aktes dürfen die Zuschauer an den Entscheidungen der Kolonisation teilhaben, dürfen mit den Smartphones abstimmen, ob Kirchen oder Krankenhäuser gebaut werden, ob Ackerbau betrieben oder Gold gefördert wird, ob auf diplomatischem Wege Politik getrieben wird oder die Macht des Stärkeren zählen soll. Entsprechend der eingeblendeten Abstimmungsergebnisse, so zumindest wird es uns suggeriert, läuft dann die Handlung auf der Videospielebene, also einer Leinwand im Hintergrund der Bühne ab, während im Vordergrund die Handlung der Oper spielt.

Dass hier gespielt wird, bleibt immer sichtbar, zumindest in den ersten beiden Akten. Anika Marquardt und Anna Rudolph haben nämlich eine Bühne auf die Bühne gebaut, deren Außengestaltung ein wenig an ein Laptop erinnert, deren Inneres aber an Bühnenausstattungen des 18. Jahrhunderts angelehnt sind. Dort darf das Liebespaar ganz seinen vergangenen Träumen nachhängen. Doch so recht wollen sie nicht zusammenkommen.

Welt

Zunehmend verschwimmen die Welten, übernehmen die Spieler die Initiative. Am Ende des zweiten Aktes stürmen die kriegerischen Videospielhorden plötzlich von der vormodernen in eine moderne Welt, also vom Land in die Stadt und sind in der Gegenwart angekommen. Mit Beginn des dritten Aktes scheint die Spielwelt mehr oder weniger eliminiert: Otello sitzt auf den Trümmern der analogen Welt, ist ganz im Hier und Jetzt. Vom Heldentum ist wenig geblieben, Jago hat ganze Arbeit geleistet, Otello zum Außenseiter gemacht, ihn gesellschaftlich geächtet. Die Realität, die in Gestalt des Volkes und dessen unterschiedlicher politischer Forderungen − Sicherheit versus Expansion − immer stärker auf ihn eindringen, kommen bei ihm nicht mehr an.

Bildwelt

Dittrich bürdet Verdis „Otello“ viel auf, verhandelt Themen wie Habsucht, Machtgier, Fremdheit, Kolonialisierung, Sexismus, Rassismus, toxische Männlichkeit, weibliche Unterdrückung, lässt seine Figuren durch Zeit und Raum irren. Dabei gelingen ihm immer wieder beeindruckende Bilder, wenn etwa Desdemona im Verlauf ihres Ave Marias die halbierten Porträts von Frauen an ihren Gefängniskäfig heftet, während in einer Laufzeile Textauszüge sowohl aus diesem Gebet als auch dem Grundgesetz gezeigt werden, kontrastiert mit Hinweisen auf Femizide, die in Deutschland durchschnittlich alle drei Tage stattfinden. Doch erdrückt die Bildwelt das Stück, sind zu viel Bilder im Bild, ist zu viel Bühne auf der Bühne, zu viel Welt in einem Stück. Zu viel ist aber nicht genug.

Musikalische Welt

Der Darmstädter Generalmusikdirektor Daniel Cohen bevorzugt den breiten Pinsel, die große Geste, hält Opern-, Extra- und Kinderchor (Einstudierung: Alice Meregaglia und Rodrigo Cob Peña) gut zusammen, schafft aber auch Freiräume für intime Momente, die die Sängerinnen und Sänger zu nutzen wissen. Wunderbar innig-zurückgenommen singt Megan Marie Hart das Lied von der Weide und das anschließende Ave Maria. Aris Argiris ist stimmlich ein imponierender, intonatorisch ein wackeliger Jago, Gaston Rivero ein nahezu idealer Otello, der alles mitbringt, was die Rolle verlangt, der Lyrisches und Heroisches hat, der subtil und auftrumpfend singen kann, dessen Stimme tenorale und baritonale Eigenschaften vereint. Die kleineren Partien sind allesamt adäquat besetzt.

Fazit: Nicht jedes Stück eignet sich dazu, eine Art Zustandsbeschreibung unserer Welt zu liefern. Oper darf alles, sie kann aber nicht alles.