Aber kaum ist die „Insel“ entstanden, wollen die Überlebenden das auch gar nicht mehr: von außen erreicht werden. Eine machtgierige, ideologisch schwerst vernagelte Psychopatin, so etwas wie die Dorfälteste und als solche hoch geschätzt, hat schnell und bald nach Beginn der Flut die Macht übernommen. Und um die neuen Strukturen, die entstehen können in nachbarschaftlichen Verhältnis weniger mehr oder weniger begabter Strippenzieher, geht es nun im Stück; nicht um die ökologischen Prämissen von katastrophischen Überschwemmungen in Zeiten des fortschreitenden Klimawandels. Auch das könnte ja ein Thema sein – aber nicht für Nina Segal. Womöglich ist die grundsätzliche Spiel-Idee des Stücks auch deshalb so wenig durchdacht und weit weg von realen Flusslandschaften.
Theater über eine verfallende Gesellschaft
Die Autorin will ein Gesellschaft im Verfall zeichnen, markant geprägt von fortschreitender Idiotie. Als etwa ein lokaler Politiker gleich zu Beginn der Flut das tut, was völlig unabhängig von allen menschlichen Eigenheiten des Volksvertreters seines Amtes ist (nämlich möglichst viel Bevölkerung zu retten), verzettelt sich die erschreckend ahnungslose Einwohnerschaft in frucht- und nutzlosen Debatten darüber, ob das „Amphibien-Fahrzeug“, das der Politiker zur Rettung anbietet, irgendetwas mit Kröten oder Fröschen zu tun haben könnte – heilige Einfalt.
Eine ältere Dame namens Margaret, die bislang durch keinerlei Bürgerinnen-Bewusstsein aufgefallen, rückt anstelle des Politikers ins Zentrum. Sie mag nicht nur keine „Amphibien“ (auch wenn sie nicht weiß, was das ist), sie wird auch angetrieben von der leicht tribalistisch-identitären Vorstellung von so etwas wie „Heimatverbundenheit“. Wo einer und eine geboren ist, sagt sie, da müssen sie auch bleiben. Alle anderen sind „Außenseiter“ und müssen weg. Das setzt sie durch: mit destruktiver Gruppen-Psychologie, mit Stacheldraht und bewaffneten Milizen.
Warum flieht niemand in diesem Schauspiel
So weit, so gruselig. Wirklich unerfreulich wirkt aber die Unbedachtheit, mit der die Autorin das krude Szenario ohne weitere strukturelle Entwicklung vor sich hin trudeln lässt. Wie etwa hält die durchgeknallte Insel-Bande Ernährung und Versorgung aufrecht? Warum sollten denn – wie Mutter Margaret fordern lässt – Helferinnen und Helfer die Lieferungen in schwimmende Plastikbeutel einschweißen und an Land treiben lassen? Nina Segal macht sich praktisch gar keine Gedanken über den szenischen Verlauf.
Sie sortiert stattdessen bloß Effekte – beschwört etwa „Festumzüge“. Aber was wäre denn zu feiern über die völlig nutzlose, nur ideologisch verbrämte Insel-„Autonomie“ hinaus? Bald mutieren die „Umzüge“ prompt zu „Aufmärschen“, bei denen drei Meter große Papp-Figuren von Insel-Diktatorin Margaret herumgetragen werden sollen, die derweil Durchhalte-Reden im garstigen Insel-Wahn hält. Ein Sohn von Viv, einer getreuen Gefolgsfrau von Margaret, flüchtet bei der Gelegenheit aufs Festland.
Warum unternimmt dieses Wagnis eigentlich sonst niemand? Warum mutiert Mick, alleinerziehender Vater, zum bewaffneten Sicherheitschef der Potentatin? Warum lässt dessen Tochter Laurie sich ködern von irgendwelchen abgedrehten Propaganda-Versprechen? Und was macht eigentlich der wuschelmähnige Dokumentarfilmer „Inge“ auf der Insel? Dokumentiert er tatsächlich „experimentell“ den Untergang dieser verlorenen Bande? Kann es im finalen Gespräch zwischen ihm und Margaret wirklich um Fragen von „Wahrheit“ gehen? Überhaupt ist dieser Schluss, wie vieles zuvor, extrem fragmentarisch in den Motiven – sinkt der Wasser-stand tatsächlich wieder? Und kann Margaret diesen „Inge“ tatsächlich noch ertränken?
Starke Ausstattung in Gießen
„Stadt, Land, Flut“ ist als Text wirklich kein Ereignis: unausgegoren in den gedanklichen Strukturen, inkonsequent in handwerklicher Technik und politischer Zielsetzung. Manchmal geht’s sogar richtig wirr und albern zu: wenn der Lokalpolitiker vom Beginn per Video auftaucht, raus ist aus der Politik und am kalifornischen Strand Cocktails süffelt (nochmal: Heilige Einfalt!).
Yesim Nela Keim Schaub konzentriert sich in der deutschsprachigen Erstaufführung (Übersetzung: Karen Witthuhn) auf der erstaunlich wandlungsfähigen Bühne im immer noch recht neuen – und feinen – Kleinen Haus des Stadttheaters Gießen intensiv auf die teilweise durchaus launigen, aber im Text nie wirklich zu Ende gedachten Profile im engagiert agierenden Ensemble. Derweil verpasst die Bühne von Theresa Reiwer der intellektuell unterkomplexen Fabel mit flexiblen Wänden und Jalousien ein wenig Abstraktion. Die Kostüme von Marthe Labes kümmern sich um die Profile für das Personal, die der Text nicht liefert.
Aber die gut 90 Minuten Spiel bemühen sich letztlich fruchtlos um einen Text, den die Autorin dringend noch einmal überarbeiten sollte: damit er interessant und womöglich doch noch wichtig wird.