Foto: Ensembleszene mit bunten Videosequenzen © Rolf K. Wegst
Text:Hans-Jürgen Linke, am 20. Januar 2024
Pat To Yans „Neometropolis“ ist in der Uraufführung am Stadttheater Gießen ein Märchenort, der nicht untergehen will wie Metropolis. Die parabelhafte Szenerie ist phantastisch bestimmt durch elektronische Live-Musik und bunte Video-Sequenzen.
Der Raum ist definiert von Video-Sequenzen in kraftvollen Blau- und Grün-Tönen und von Musik – keiner flirrenden Ambient-Kulisse, sondern markanten elektronischen Klängen, einem akustischen Klavier, dann auch E-Gitarre und Songs von Lyhre, die in der Mitte der Bühne zwischen ihren Instrumenten sitzt und live spielt und singt.
Neometropolis ist vor allem ein virtueller Raum mit großer Tiefe und mehreren Ebenen – eine smarte Stadt, beherrscht von einem diensteifrigen Bürgermeister und dem alles kontrollierenden Tech-Konzern. Dessen CEO Moss verspricht den Menschen eine wunderbare Zukunft (allerdings keine Gegenwart), wenn sie weiterhin brav sind. Jedem in der Stadt wurde bei der Geburt ein Hirn-Maschine-Interface implantiert, das Daten ans System liefert. Sonst erfährt man nicht viel vom System, soziale und politische Dimensionen finden sich nur in Anspielungen und Neben-Motiven.
Auch wenn der Titel auf Fritz Langs Film „Metropolis“ von 1927 anspielt, ist Pat To Yans „Neometropolis“ in der Gießener Uraufführung nicht Ort einer sich zuspitzenden Zwei-Klassen-Gesellschaft. Es ist eher ein Märchenort, in dem motivische Reste politischer Konflikte metaphorisch verwandelt sind – mehr Menschheits-Tragödie als Erzählung von gewaltsamer Unterdrückung.
Neometropolis will nicht zugrunde gehen
Pat To Yan entfaltet in diesem Raum eine un-psychologische, parabelhafte Szenerie. Von der Stadt nicht ganz hermetisch abgegrenzt gibt es den Wald – ständige Quelle von Gefahr und Bedrohung (das Fungus-Virus!) für die Menschen. Dort sucht ein Junge namens Earnest seine Katze und findet eine Replik seiner Mutter. Außerdem begegnet er ausgestorbenen Lebewesen, einem Mädchen, das kein Mensch mehr sein will, und dem dilettierenden Schöpfer Mahak. Earnest kann übrigens Pflanzen verstehen, das Wetter beeinflussen und ist der Sohn des städtischen Chefprogrammierers Mono. Und natürlich ist er der Einzige, der die wirklich ernsten Fragen stellt.
Metropolis ist, man weiß nicht genau, woran, zu Grunde gegangen, die smarte Stadt Neometropolis will deren Fehler nicht wiederholen, steckt aber, wie unschwer zu erkennen, selbst in einer ausweglosen Sackgasse, weil sich die Stadt und mit ihr das menschliche Leben überhaupt in einen krassen Gegensatz zu allem, was Natur ist, gesetzt hat. Wahrscheinlich ist diese Setzung der tödlichste aller Fehler, egal, welche Datenmengen das System sammelt und verarbeitet. Denn der Wald ist keineswegs wehrlos, und vielleicht hat er den längeren Atem.
Kunstvolle Zeichenwelt – und alle Fragen offen
Die ganz großen Fragen bleiben natürlich unbeantwortet, die Inszenierung lässt sie aber im Bühnenraum erscheinen, unübersehbar und unüberhörbar. Das ungemein bewegliche Ensemble geht mit elektronischer Selbstverfremdung ebenso virtuos um wie mit choreografischen Aufgaben (etwa: wurzelnde, in sich bewegte Bäume, Choreografie: Mel Brinkmann), der Aufgabe eines Background-Chores und Rollenwechseln, ist aber nur ein zentrales Element in einer übergreifend konzipierten Zeichenwelt, die vor allem von der raumgestaltenden und enorm präsenten Live-Musik Lyhres strukturiert und zusammengehalten wird.
Thomas Krupas Inszenierung führt mit sensibler Präzision differente Erzählweisen und semiotische Reservoirs zu einer offenen, aber konsistenten Form zusammen – und konterkariert damit, im Geiste von Pat To Yans lyrisch-märchenhaftem Drama, die Suche nach einer klaren Antwort auf die letzte Frage. Zur großen Freude des Premierenpublikums.